28/07/2025
Hinter den Kulissen der Fussball-EM der Frauen – Mentale Stärke als Teamleistung
Einblicke in meine Arbeit als Sportpsychologe des Schweizer-Frauen-Nationalteams an der Fussball-Europameisterschaft
Vier Wochen Europameisterschaft. Ein historisches Turnier im eigenen Land. Überfüllte Stadien, Gänsehautmomente, ein Team, das über sich hinausgewachsen ist – und mittendrin durfte ich als Sportpsychologe ein Teil davon sein. Es war intensiv, bewegend, fordernd, und: es war unglaublich bereichernd.
Heute, mit etwas Abstand und einem klareren Blick auf das Erlebte, bin ich einfach nur dankbar. Und ich möchte diesen Moment nutzen, um einen Einblick zu geben, was in den vergangenen Monaten und Wochen aus sportpsychologischer Sicht geschehen ist. Denn mentale Stärke passiert nicht zufällig. Sie ist das Ergebnis von Vertrauen, bewusster Arbeit – und gutem Timing.
Mehr als nur Spielvorbereitung
Was viele nicht sehen: Die sportpsychologische Arbeit beginnt lange vor dem Anpfiff. Bereits ein Jahr vor dem Turnier haben wir begonnen, mit der Gruppe systematisch an mentalen Themen zu arbeiten. In Gruppensettings, in Einzelgesprächen, mit kurzen Videoimpulsen und intensiven Reflexionen. Wir haben nicht nur „Techniken“ vermittelt – wir haben eine gemeinsame Sprache für mentale Prozesse geschaffen. Eine Sprache, die verbindet und stärkt, gerade dann, wenn es eng wird.
Hier ein Auszug einiger Themen, die wir vertieft angeschaut haben:
•Stressmanagement: Wir haben Atemtechniken eingeführt und trainiert – von der Boxatmung bis hin zur 6-4- oder 7-4-3-Atmung. Es ging darum, in Momenten hoher Intensität den Körper in einen Zustand innerer Ruhe zu bringen. Aber auch darum, gezielt zu aktivieren, wenn Energie gefragt war. Die Atmung wurde zur inneren Ankertechnik für viele.
•Körpersprache & Selbstführung: Wie stehe ich auf dem Platz? Wie beeinflusst mein Körper mein Denken? Und umgekehrt? Welche Wirkung hat mein Auftreten auf mich selbst – und auf das Team? Wir haben uns damit beschäftigt, wie man auch durch Haltung, Gestik und Blick Präsenz erzeugt und Sicherheit ausstrahlt.
•Selbstgespräche: Wie sprechen wir mit uns selbst, wenn es schwierig wird? Sind wir ruhig, unterstützend – fast wie eine beste Freundin? Oder sind wir kritisch, hart, streng? Und wann braucht es was? Wir haben viel darüber gesprochen, wie bewusst eingesetzte Selbstgespräche helfen können, sich zu beruhigen, aber auch gezielt zu pushen. Mentale Stärke heisst nicht nur innere Ruhe, sondern manchmal auch: sich selbst wachrufen.
•Akzeptanz & Emotionsregulation: Statt unangenehme Gefühle zu verdrängen, haben wir gemeinsam Strategien entwickelt, wie wir mit Druck, Angst oder Enttäuschung umgehen können. Es ging nicht um „positives Denken“, sondern um innere Haltung. Um das Aushalten. Und das Anerkennen, dass Emotionen Teil des Spiels sind – nicht das Problem.
Mentale Geschichten – und was wir uns selbst erzählen
Ein starker Moment in der Vorbereitung war die Arbeit mit der Frage:
„Wenn es ein Top-Turnier wird – was erzählt ihr euch dann am Schluss?“
Ich habe die Spielerinnen eingeladen, sich vorzustellen, sie stünden an der Abschlussfeier. Auf der Team-Party. Im Gespräch mit den Medien. Zu Hause bei ihren Familien.
Was erzählen sie dann? Welche Geschichte über diese Europameisterschaft tragen sie in sich?
Diese Fragen haben etwas in Bewegung gebracht. Sie haben Bilder erzeugt. Emotionen. Orientierung.
Denn mentale Geschichten sind nicht einfach Fantasie – sie sind eine Form der inneren Führung. Wer weiss, was er oder sie erzählen möchte, beginnt, den Weg dorthin bewusster zu gestalten.
Ich bin überzeugt: Diese Reflexion – individuell und im Team – war unter vielem anderem ein entscheidender Impuls. Die Spielerinnen hatten ein inneres Zielbild. Nicht nur sportlich, sondern menschlich. Und das hat Einfluss. Auf die Haltung. Auf den Umgang miteinander. Auf die Tiefe der Reise.
Impulse, die wirken – auch wenn man sie nicht sieht
Während des Turniers habe ich mich bewusst zurückgenommen. Ich war da, präsent, beobachtend – aber nicht dauernd intervenierend. Denn meine Überzeugung ist: Wenn man im Vorfeld gut arbeitet, braucht es im Turnier keine ständige „Psychologie“. Dann tragen die Menschen sich selbst.
Genau das ist geschehen. Ich durfte miterleben, wie das Team über sich hinauswächst. Wie Spielerinnen Verantwortung füreinander übernehmen. Wie schwierige Situationen nicht unter den Teppich gekehrt, sondern besprochen wurden – ohne dass ich jedes Mal gefragt werden musste. Ich glaube, diese Reife ist das grösste Kompliment für unsere gemeinsame Arbeit im Vorfeld.
Und sie ist ein Zeichen dafür, dass mentale Stärke nicht in den Momenten entsteht, in denen sie sichtbar wird – sondern in Prozessen davor.
Und jetzt?
Jetzt, ein paar Tage nach dem Turnier, bin ich ehrlich gesagt auch etwas müde. Die letzten Wochen waren intensiv – körperlich, emotional, mental. Aber sie haben mich erfüllt. Und sie zeigen mir, wie gross das Potenzial ist, wenn psychologische Arbeit im Spitzensport nicht als „Zusatz“ verstanden wird, sondern als integrierter Teil des Erfolgs.
Ich freue mich auf das, was ist und was kommt: Die letzten Tage war ich mit dem FC St.Gallen unterwegs und haben das erste Meisterschafsspiel gegen den FC Basel erfolgreich gestaltet. In einigen Tagen begleite ich Anouk und Zoé Verge Depre an die Beachvolleyball-Europameisterschaft. Danach folgen Workshops mit Führungskräften zum Thema Selbstführung und mentale Klarheit bei der Mobiliar. Und ganz bewusst nehme ich mir auch Raum für Rückzug – für Bücher, für Bewegung, für meine Frau, unseren Hund und die Menschen, die mir guttun.
Denn auch das habe ich in den letzten Wochen nochmals gespürt: Gute Arbeit braucht Pausen. Und Balance ist kein Luxus, sondern Voraussetzung.
Fazit
Diese Europameisterschaft war für mich nicht nur ein sportlicher Höhepunkt – sie war eine Erinnerung daran, dass mentale Exzellenz nie Zufall ist. Sie entsteht dort, wo Vertrauen gelebt wird. Wo Reflexion Raum bekommt. Wo Verletzlichkeit erlaubt ist. Und wo mentale Prozesse nicht isoliert betrachtet werden, sondern als Teil eines gemeinsamen Wegs.
Ich bin stolz, Teil davon gewesen zu sein. Und ich bin dankbar für alles, was war – und für alles, was jetzt kommt.