01/03/2023
Freaky Friday
Freitagmittag, kurz vor Dienstende. Das Telefon klingelt. Ich nehme ab und antworte gewohnt freundlich:
„Flexi Pflege, meine Name ist Loës. Was können wir für Sie tun.“
„Guten Tage, hier ist die Seniorenresidenz XY. Müller, PDL. Wir benötigen Unterstützung für das Wochenende.“
„Für dieses?“
„Ja.“
„Was benötigen Sie denn? Examinierte Fachkräfte? Examinierte Assistenzen? Hilfskräfte ohne Examen?“
„Für heute im Spätdienst 2 Exen; für morgen im Frühdienst eine Exe und eine Hilfskraft; für den Spätdienst 3 Exen, zwei examinierte Assistenzen und eine Hilfskraft; Sonntag im Frühdienst zwei Exen und eine Hilfskraft; im Spätdienst 3 Exen, zwei Assistenzen und zwei Hilfskräfte und für die Nacht von heute bis Montag 2 Exen. Wenn Sie noch weitere Hilfskräfte für das Wochenende spontan frei haben, nehmen wir auch die.“
„…“
Ich habe gerade gestern nach wochenlanger Akquise von Einsätzen und stundenlangen Verhandlungen über Details wie Schichtzulagen, VMA, Fahrtkostenerstattung und Stundensatzanpassung meine letzten Mitarbeiter in längerfristige Einsätze gebracht. Und jetzt kommt ein Anruf, und die brauchen ein halbes Battalion an Pflegekräften. Ich überlege, gehe im Kopf rasch sämtliche möglichen Optionen durch- Freiberufler:innen, die sich mal gemeldet hatten, ehemalige Mitarbeiter:innen, die möglichweise grad frei haben, den Bekannten- und Freundeskreis nach allen, die irgendwie der Pflege verbunden sind.
Die Liste der letztlich möglichen Kandidat:innen ist kurz. Überschaubar. Fachkräftemangel in der Pflege. Was über Jahre kaputtgespart wurde macht sich jetzt immer stärker bemerkbar.
„Sind sie noch da?“
„Ja, ich habe nur überlegt. Ist Ihnen die Belegschaft davongelaufen? Sie brauchen ja mehr Personal als Daimler zu Spitzenzeiten.“
Mein Gegenüber lacht kurz, auch wenn der hysterische Unterton nicht zu überhören ist. Ganz offensichtlich ist man verzweifelt am anderen Ende der Leitung.
„Wir haben hier heute spontan eine ganze Menge Evakuierungen rein bekommen. Da reicht das Stammpersonal bei Weitem nicht aus. Können Sie uns irgendwie aushelfen.“
„Das wird schwierig. Unsere Stammkräfte sind derzeit alle ausgebucht, krank oder im Urlaub. Aber eventuell kann ich von außerhalb etwas arrangieren. Ich melde mich in zwei Stunden nochmal.“
„Vielen Dank. Jede Hilfe ist wichtig.“
Als wieder Still einkehrt im Raum, setze ich mich einen Moment und überlege. Was ich über unsere Mitarbeiter gesagt hatte, stimmte. Von denen steht niemand aktuell zur Verfügung. Dann wären da noch die Handvoll Freelancer, mit denen wir hin und wieder kooperieren. Zuverlässige Männer und Frauen, aber genauso zuverlässig schon häufig Wochen im Voraus ausgebucht. Ein paar Telefonate später herrscht auch hier Gewissheit. Wer nicht bereits im Einsatz ist, dem ist die Anfahrt für lediglich ein Wochenende zu weit.
Ich durchsuche die Akten der ausgeschiedenen Mitarbeiter, die zum Teil noch vor meinem Dienstantritt die Firma verlassen hatten. Viele von denen sind längst in neuen Arbeitsverhältnissen- als Fachkraft brauchst du dich nicht bewerben, du wirst umworben. Da ist bereits der Griff zum Hörer meist vergebene Liebesmüh.
Aber dann stutze ich bei einer Akte. Die Trennung verlief damals wohl nicht so glücklich, das ist alles was ich aus der Führungsetage mitgeteilt bekomme. Nun gut- Schnee von gestern, das war vor meiner Zeit. Ansonsten erzählte die Akte eine vertraute Geschichte: Arbeit in Teilzeit, zwei Kinder, Mann arbeitet auch in der Pflege. Ich hoffte, er arbeitete damals nicht in der entgegengesetzten Schicht. Sonst könne die sich ja gar nicht sehen. Aber möglich, wenn beide in Teilzeit arbeiten und auch da der letzte Eintrag auf Mutterschutz hinwies, dass sie eventuell mit viel Glück für ein Wochenende einen Einsatz übernehmen würde.
Eigentlich ist seit zwei Stunden Feierabend. Freaky Friday.
„Das musste du verstehen“, sagte einmal meine Chefin, „Die planen immer am Donnerstag für das Wochenende. Am Freitag kommt dann die Katastrophenmeldung und der ganze Dienstplan ist für den Eimer. Dann schauen die zuerst bei sich vor Ort im Personal, ob etwas geht, und nachdem sie nur Abfuhren bekommen haben, rufen die uns an. Das ist dann aber schon nach 12 Uhr.“
Zuhause angekommen versuche ich selbst zwischen Kind und Kegel die ehemalige Mitarbeiterin zu erreichen. Das Telefonat verläuft dann sehr entspannt-chaotisch, weil auf beiden Seiten im Hintergrund die Kinder versuchen, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu ziehen. Es stellt sich rasch heraus, dass die junge Frau durchaus willens ist, der Sache einen Versuch zu geben, allein, die Betreuung der jüngsten muss gesichert sein.
Ich melde mich erneut beim Kundenbetrieb und bringe die Hoffnung ins Spiel, dass zumindest ein Posten besetzt werden kann. Aber ich weise auch deutlich darauf hin, dass alles an der Sicherstellung der Kinderbetreuung hängt. Jetzt hilft nur Daumendrücken und warten. Der Ball liegt nun bei der jungen Frau und ihrer Familie.
Zwei Stunden später. Die Hunde sind versorgt, die Hausaufgaben besprochen, ein oder zwei kleine Streitigkeiten geschlichtet und die Küche auf Vordermann gebracht. Das Diensthandy liegt die ganze Zeit neben mir. Aber es schweigt. Keine Nachricht, und der Zeitraum, in dem die Einrichtungsleitung noch zu erreichen ist, wird immer enger. Ich schaue auch immer wieder in den WhatsApp Chat, ob ich nicht zufällig eine Nachricht verpasst habe, aber nichts rührt sich.
Kurz vor fünf klingelt dann das Telefon. Die Kinder werden über das Wochenende von ihrem Mann betreut, sie macht es. Ich gebe die Kontaktdaten der Einrichtung weiter und bekomme nur 10 Minuten später einen Anruf von dort.
„Sie übernimmt die Frühschicht. Ich könnte Sie drücken. Sie und ihre Mitarbeiterin.“
Ich muss lächeln. Freaky Friday.