11/02/2025
Märchenstunde im Waldkindergarten
"Wie die Raben schwarz wurden"
(Auf Grund des Wetters, ausnahmsweise im Bauwagen...)
Ich habe mich für dieses Märchen entschieden, da die typischen Erzählungen der Gebrüder Grimm weitestgehend bekannt sind und leider durch die Christianisierung und Disney stark verändert und verklärt wurden. Es gibt weltweit in den Sphären der Mythen und Märchen (zu unterscheiden von Legenden und Sagen) einen so reichhaltigen Schatz. Jedoch auch aus unseren nativen Kulturen, die oft zum Leidwesen politisch stigmatisiert und vergessen werden. Dabei wurden oftmals Naturphänomene und -Beobachtungen, Naturgesetze oder auch ganz praktisches Wissen wie z.B. die Pflanzenkunde dadurch vermittelt.
Die Kinder in diese fantastische Welt durch das Erzählen dieser Geschichten wieder zu begeistern, ist mir in Hinblick auf Ökologie, Animismus und Natur-/Wildnispädagogik ein besonderes Anliegen. Auch werden die kognitiven Kompetenzen der Kinder stimuliert und sie können sich selbstständig und fern ab der modernen digitalisierten Technik und vorgefertigten Darstellungen ein tieferes Bild der Erzählung machen.
Es handelt sich genaugenommen um einen Mythos aus der Zeit der germanischen Völker Mittel- und Osteuropas. Es geht dabei um den Stammvater der „Asen“ (ein Göttergeschlecht). Dieser hat sehr viele Namen, doch seine bekanntesten waren Wotan, Woden und Grimnir oder auch Odin (skandinavisch) und Rafenfattr (Rabenvater). Er war der Schamanengott, der durch die 9 Welten Des Weltenbaumes reiste, sich verkleidete und verwandeln konnte. Er war der nach Wissen und Weisheit Suchende und der Bringer der Runen. Allein über den „Allvater“ gibt es hunderte Geschichten in der Mythologie der indigenen Kulturen Europas und Skandinaviens.
Ihn begleiteten 2 Wölfe und 2 Raben. In dieser Geschichte geht es um die 2 Raben Hugin (Erinnerung) und Munin (Gedanke); und wie diese ihr bis heute schwarz-schimmerndes Federkleid bekamen. In früheren Zeiten waren die Raben noch weiß, so sagt man. „Großvater Wotan“, wie ich ihn nenne, wusste bald vieles, doch wollte er mehr wissen. Auch, wie es in den Gedanken und Träumen der Menschen aussieht. Also sendete er Hugin und Munin, um ihm zu berichten…
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„Oh, meine jungen Freunde, da fällt mir eine uralte Geschichte dazu ein, die möchte ich euch gerne erzählen. Nämlich, wie die Raben schwarz geworden sind. Dafür, fliegen wir gemeinsam tiefer ins Land der Märchen und Gedanken...“
- Ich hole den „Märchenrauch“ (wohlriechende Räuchermischung) und fächle diesen mit der Rabenfeder über die Köpfe der Kinder:
„…um euren Geist und eure Gedanken zu öffnen, damit ihr mit in die Geschichte reisen könnt.“
- Jetzt ziehe ich meine „Verkleidung“ an, nehme den Stenz in die Hand und sage geheimnisvoll:
„Ich will euch erzählen, von einer uralten Geschichte. Ich habe sie von meinem Vater und der hat sie von seinem Vater und der wiederum von seinem Vater…“:
Es war einmal vor sehr, sehr langer Zeit, als die Welt schon alt war, aber die Menschen noch jung waren und alle Tiere noch sprechen konnten.
Da lebte ein Mann, der war ein Schamane und ein Zauberer. Er war auch ein Reisender und hatte viele Namen. Einer seiner Namen war: Großvater Wotan.
Als er einst durch die Welt und die weiten Wälder wanderte, setzte er sichauf eine riesige Wurzel unter einen uralten und riesigen Baum. Der Baum hatte auch einen Namen: „Yggdrasil“. Da flogen zwei Raben zu ihm und setzten sich auf seine Schultern.
- Der Rabe auf seiner linken war weiß, wie die Nebel der Wiesen und Sümpfe im Reich der Elfen und Wichtel.
- Der Rabe auf seiner rechten Schulter glänzte in der Sonne, wie der Schnee der Berge und des ewigen Eises im Reich der Riesen und Trolle.
„Denn zu dieser Zeit, waren noch alle Raben weiß.“
Großvater Wotan wusste viel, doch er wollte noch mehr wissen. Er wurde bald so neugierig, wie die Raben. Er glaubte, wer alles weiß, kann sich und anderen immer helfen. Wotan konnte jedoch nicht überall sein, und das müsste man ja, um alles zu erfahren.
Großvater Wotan und die Raben wurden Freunde. Und so schickte Wotan die Raben los, um ihm von der Welt zu berichten.
So zogen sie bei Sonnenaufgang los, flogen herum, horchten und beobachteten, was immer sie konnten.
Und jeden Abend, bei Sonnenuntergang, kehrten sie zu Wotan zurück und erzählten ihm alles, was sie in den langen Stunden des Tages gesehen und gehört hatten.
Sie erzählten von den langsamen Gedanken der Berge und Steine, dem Flüstern der Pflanzen und Pilze und dem Lied des Windes.
Wotan bedankte sich und sprach: „Das ist viel, doch ist es nicht genug…“
Am nächsten Morgen flogen die Raben wieder aus und beobachteten die Tiere des riesigen Waldes und der Wiesen.
Am Abend kehrten sie zurück und berichteten Wotan, was sie gesehen hatten.
-- So nannte er den Raben auf seiner linken Schulter Hugin, das bedeutet Gedanke.
-- Und den Raben auf seiner rechten Schulter nannte er Munin, das bedeutet Erinnerung.
Wotan bedankte sich und sprach: „Das ist viel, doch ist es nicht genug…“
Als Hugin und Munin die Nacht durchgeschlafen hatten, flogen sie wieder aus und beobachteten die Reise des Wassers - in den Wolken, den Flüssen, den Seen und der Meeren.
Wotan bedankte sich und sprach: „Das ist viel, doch ist es nicht genug…“
Großvater Wotan freute sich sehr an dem Wissen, was ihm die Raben brachten.
Doch hatte er stets das Gefühl, das noch etwas fehlte.
Und die Raben schliefen unruhig. Sie wussten nicht, was noch fehlte.
Und weiter, jeden Morgen, flogen sie wieder hinaus in die Welt.
Und jeden Abend wieder zurück – so ging es lange.
Großvater Wotan mochte die Menschen sehr und wollte mehr über sie erfahren. Als die Sonne aufging, sendete er Hugin und Munin wieder los.
Nach einem weiteren langen Tag, an dem die Raben wieder einmal alles gesehen hatten, was der Sonnenschein zeigen kann, - auch alle hellen Gedanken der Menschen belauscht und ihre wachen Erinnerungen gelesen hatten -,
dachten die Raben: „Krark, wir können noch nicht zurück! Es ist viel, doch für Wotan noch nicht genug! Krark, wir müssen weiter.“
Und so flogen sie in die Nacht hinein und in das Dunkle.
Und Hugin flog durch die dunklen Träume der Menschen und hörte die Gedanken, die sie am Tage nicht dachten. Er schwang sich durch die schwarze Leere zwischen den Sternen, wo nichts ist, und weiter bis zur heimlichen Welt der Zukunft, wo nichts und doch alles zugleich ist.
Und als er zurückkam, waren seine Federn, von Flügel zu Flügel, so schwarz wie die Nacht.
Und Munin flog durch die Erinnerung der Menschen, wo sie all die Dinge versteckten, oder vergessen hatten und sagten: „Ich erinnere mich nicht.“ Er segelte weiter und weiter und tiefer durch die Asche der alten Welt. Zur Vergangenheit, als es noch keine Pflanzen, Tiere oder Menschen gab.
Und als er zurückkam, waren seine Federn, vom Schnabel zum Schwanz, so schwarz wie Ruß.
Die Raben kehrten zu Großvater Wotan zurück, gerade vor Anbruch des Morgens, wenn die Nacht am dunkelsten ist. Er sah sie nicht, doch hörte er ihr krächzen und den Schlag ihrer Flügel.
Und wie sie sich auf seine Schultern setzten, wusste er alles, was sie gesehen hatten.
Und Großvater Wotan verstand, dass ALLES WAS IST; das Vergangene, das Jetzt und das noch Werdende - miteinander verbunden ist, doch vieles im Dunklen liegt.
So sprach er: „Es ist viel, und es ist genug… für heute.
Ihr könnt jetzt ruhen. Habt Dank und Heil meine Brüder.“
Die Raben blinzelten schläfrig in die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die auf ihren - nun schwarzen - Federn glänzte, steckten den Schnabel unter die Flügel, und schliefen sehr tief und wohl.
„Seit dieser Zeit sieht man, dass alle Raben so schwarz sind, wie ein Schatten in einer sternlosen Nacht.“
Ich fächle mit der Rabenfeder über die Köpfe der Kinder und sage: „Wir reisen wieder zurück aus dem Land der Träume. Kommt zurück in das „Jetzt“.“