30/01/2025
In einem dichten, alten Wald lebte eine kleine Eule, die es liebte, alles zu planen. Es war ihre Art, mit der Welt umzugehen. Ob ein kurzer Flug zum nächsten Baum oder eine lange Reise zum großen See am Waldrand – sie machte sich viele Gedanken, bevor sie losflog. Jede noch so kleine Reise war für sie wie ein Projekt.
„Was, wenn es regnet?“, überlegte sie. „Wo könnte ich Schutz finden? Was, wenn ein Sturm aufzieht? Ich muss vorher wissen, wo ich eine Pause machen kann.“ Sie verbrachte viel Zeit damit, alle Möglichkeiten durchzugehen, Karten zu zeichnen und sich auszumalen, was unterwegs alles passieren könnte. Sich vorzubereiten gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Es war ihr wichtig, nichts dem Zufall zu überlassen. Sie fühlte sich stark und klug, wenn sie wusste, dass sie für jede Situation gerüstet war.
Eines Tages jedoch wurde die kleine Eule auf eine Weise überrascht, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Es war ein klarer Morgen, und sie hatte beschlossen, zum Fluss zu fliegen. Wie immer hatte sie ihren Flug genau durchdacht: wann sie losfliegen würde, wo sie Pausen machen könnte, was sie am Ziel erledigen wollte und wie lange sie dort bleiben durfte, bevor sie zurückfliegen musste, damit es nicht dunkel wurde. Alles war gut geplant.
Doch während sie durch den Wald flog, zog plötzlich dichter Nebel auf. Innerhalb weniger Minuten war die Welt um sie herum in eine dichte, weiße Decke gehüllt. Die Äste der Bäume, die sonst ihre Orientierungspunkte waren, verschwanden. Selbst der Boden unter ihr war nicht mehr zu sehen.
Zuerst war sie verwirrt. Sie flatterte unruhig mit ihren Flügeln und suchte nach den vertrauten Zeichen, die sie aus ihrer Planung kannte. Doch sie sah nichts. „Das war nicht geplant!“, schluchzte sie. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, und ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. All ihre Pläne waren plötzlich nutzlos. Der Nebel ließ keine Orientierung zu, kein Ziel, keinen klaren Weg.
Sie setzte sich auf einen Ast, zitternd vor Anspannung. Sie dachte an ihre Karten, an all die Überlegungen, die sie sich gemacht hatte. Aber der Nebel war unerbittlich. Es war, als hätte er die Kontrolle über die Welt übernommen und sie aus ihrer Sicherheit gerissen. Die Eule fühlte sich entsetzlich klein und verloren.
Da kamen ihr die Worte ihrer Mutter plötzlich in den Sinn: „Wenn du nicht weißt, wohin du fliegen sollst, dann schau nicht zu weit voraus. Konzentriere dich auf das, was direkt vor dir liegt.“
Die kleine Eule atmete tief durch. Sie spürte, wie ihre Flügel noch zitterten, doch sie wusste, dass sie nicht ewig auf diesem Ast sitzen konnte. Also entschied sie, sich nur auf das zu konzentrieren, was sie gerade sehen konnte – und nicht mehr auf das, was weiter entfernt war.
Sie begann, langsam zu fliegen, immer nur ein kleines Stück. Statt sich Sorgen zu machen, was als Nächstes kommen könnte, achtete sie nur auf das, was gerade direkt vor ihr lag. Die Äste der Bäume, die sie schwach durch den Nebel erkennen konnte, das leise Rascheln der Blätter, die ihr zeigten, dass kein Sturm aufzog, und der schwache Schein des Sonnenlichts, das ihr den Weg wies.
Stück für Stück flog sie langsam und aufmerksam durch den Nebel. Ihr Atem wurde ruhiger, und mit jedem Flugstück fühlte sie sich sicherer. Schließlich entdeckte sie einen vertrauten Baum, dann den kleinen Bach, der zu ihrem Zuhause führte. Endlich kam sie sicher in ihrem Nest an.
Als sie sich ausruhte, dachte sie lange über das Erlebte nach. Sie erinnerte sich an die Angst, die sie gespürt hatte, und wie nutzlos ihre Pläne im Nebel gewesen waren. Doch sie erinnerte sich auch an das, was sie gelernt hatte: dass sie durch das Achten auf das Hier und Jetzt sicher durchgekommen war.
Von diesem Tag an begann die kleine Eule, ihre Gewohnheiten zu ändern. Das Planen blieb ein Teil von ihr, aber sie fühlte sich nicht mehr so abhängig davon. Der Flug durch den Nebel hatte ihr gezeigt, dass sie auch ohne Pläne zurechtkommen konnte. Und so hatte die kleine Eule ein neues Vertrauen in sich selbst gefunden.
Und dieses Vertrauen trug sie von nun an durch jeden Flug, egal wie dicht der Nebel auch sein mochte.
Illustration: Antjeca