14/10/2020
SCHWERPUNKT IMMUNITÄT
In Shiatsu gehen wir davon aus, dass die Meridiane keine abstrakten Energielinien sind, sondern Funktionseinheiten, die artverwandte Aspekte in Körper und Geist gebündelt zum Ausdruck bringen. Was macht nun die Lunge?
In der Organuhr der TCM steht die Lunge an erster Stelle: Mit ihr beginnt der Energiekreislauf der Meridiane. Sie bringt den Strom des Lebens zum Fließen. Mit ihr und einem beherzten Gähnen begrüßen wir jeden erwachenden Tag. Mit ihr und einem tiefen Durchatmen wagen wir neue Schritte oder treffen wichtige Entscheidungen. Überhaupt: Mit der Lunge beginnt unsere eigenständige Reise als menschliches Wesen. Nach der Abnabelung von der Mutter treten wir über den ersten Atemzug mit einer völlig neuen Welt in Verbindung. Nach Monaten des Werdens und Reifens in schützender wie konstanter Umgebung, nehmen wir zum ersten Mal Kontakt mit der Außenwelt auf. Wir öffnen uns. Wir lassen die Außenwelt in uns hineinströmen. Dieser erste Atemzug ist etwas ganz Besonderes: Er aktiviert eine Kaskade an Reaktionen, die für den Organismus des Neugeborenen entscheidend sind. Ohne diesen Atemzug gibt es keinen Sprung in die eigene Existenz. Ohne dieses erste große Ja zum Überleben gibt es keinen Anfang. Das Ja ist die Kraft der Lunge. Jedes Ja ist wie eine Tür, die man mit zustimmender Bereitschaft und Wohlwollen öffnet, um Neues in sich herein zu lassen.
Ein gut entwickelter Lungenmeridian drückt sich in Zuversicht und Zugänglichkeit aus, die dem Unbekannten und der Zukunft mit einer positiven Grundeinstellung gegenübertritt: Was auch immer kommen wird, eine starke Lunge sagt Ja dazu, weil sie auf ihren langen und Energie spendenden Atem vertrauen kann. Ein langer Atem kann Hindernisse überwinden und Grenzen verschieben. Ja zu sagen heißt akzeptieren, sich hingeben, nicht aufgeben. Ja sagen heißt, mit dem Fluss des Lebens auf konstruktive Art und Weise in Verbindung zu stehen.
Ist das Lebensprinzip des Lungenmeridians schwach entwickelt, ist die Luft hingegen schnell einmal draußen: Kleinigkeiten rauben uns den Atem, Unvorhergesehenes lässt den Atem stocken, Veränderungen schnüren den Brustkorb ein. Daher, als reine Vorsichtsmaßnahme: Lieber kein Ja zur Neugier, ein klares Jein zum nächsten Schritt. Denn wer weiß schon, was kommen wird. Sicher nichts Gutes. Diese Annahme ist zwar genauso falsch wie „alles wird gut“, fühlt sich aber gänzlich anders an und hat auch andere Konsequenzen: Aus einem potentiellen Anfang kann derart ein rasches Ende werden. Weil der Möglichkeit kein Raum gegeben wird. Weil ihr die Tür verschlossen wird. Ja öffnet und beginnt. Nein verschließt und beendet. Das größte für uns zu erfahrende Nein erfolgt schließlich mit dem letzten Atemzug. Ausgehaucht. Wir beenden die Reise auf der Erde, wie wir sie begonnen haben: Mit der Lunge.
Das Lebensprinzip des Lungenmeridians drückt sich aber nicht nur in Form eines vitalen Optimismus dem Leben gegenüber aus, es steht auch für das Ja zu sich selbst. Eine starke Lungenenergie ermöglicht es, sich anzunehmen, wie man ist. Und sie ermöglicht es, sich genau den Raum im Leben zu nehmen und zu gönnen, der zu uns, zu unseren jeweiligen Bedürfnissen und zu unseren Zielen passt, damit wir immer genügend Luft zum Durchatmen haben. Das Lebensprinzip der Lunge verhilft uns zu einem gesunden Egoismus, der dafür sorgt, dass man stets den Kopf oben hält, wo die Luft frisch und belebend ist, anstatt in den stickigen Niederungen der Alltagsbanalitäten um jene Reste zu streiten, die am Buffet des Lebens übrig geblieben sind.
Das Ja zu sich selbst zeigt sich auch in einer äußert robusten Konstitution. Eine kraftvolle Lungenenergie resultiert in einem kraftvollen Körper, in einer überbordenden Vitalität, in einer starken Immunität. Breiter Brustkorb, zum Bersten gefüllt. Nicht ohne Grund beginnt hier der Verlauf des Lungenmeridians. Er sorgt für Stolz und Selbstbewusstsein im Ausdruck. Dazu kommt eine dicke Haut, die vieles ertragen und vieles erdulden kann. Ein gut funktionierender Schutzschild. Eine deutliche Grenze. Man lässt sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Stabilität auf allen Ebenen. Man fühlt sich pudelwohl in seiner Haut. Ja. Ja. Ja.
Derart fällt es auch leicht, sich dem Leben gegenüber zu öffnen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Ein starkes Lebensprinzip des Lungenmeridians ist die Basis für Offenheit und Kommunikation. Man traut sich, man kann, man will. Man lässt sich gerne berühren und berührt gerne. Man ist durchlässig und widerstandsfähig zugleich. Ganz anders verhält es sich hier bei einer Störung im Lebensprinzip des Lungenmeridians. Da kann sich das stets hoffnungsvolle und gut gelaunte Ja rasch in ein Nein auf zwei Beinen verwandeln. Man sagt nein zu sich selber, nein zum Leben, nein zum Aufstehen, nein zum Tag, nein zur Zukunft, nein zur Vergangenheit, nein zur Gegenwart. Man atmet Negativität und vergiftet sich dadurch sukzessive. Das kann zu einer tiefen Selbstverleugnung der eigenen Persönlichkeit führen, Selbstsabotage oder selbstdestruktives Denken und Handeln inklusive. Der Extremfall: Herumlungernder Pessimismus bis hin zur Lebensverweigerung. Und dann noch die dünne Haut, die einen furchtbar sensibel und verletzbar macht. Man spürt alles, wird von allem berührt, man kann sich aber nicht wehren, weil sich das Nein auch auf die physische Kraft erstreckt, diese liegt danieder, die Luft ist draußen, es ist zum aus der Haut fahren.
Hier hilft nur: Ruhig bleiben, tief durchatmen und das Ja zur Existenz Schritt für Schritt zurück erobern. Die lebens- und selbstbejahende Grundhaltung des Lungenmeridians ist das Lebensprinzip, auf dem alle anderen Meridiane aufbauen. Weil es ohne Ja keinen Anfang geben kann.
FRAGEN FÜR DEN LUNGEN-MERIDIAN
- Kann ich klar und deutlich Ja sagen?
- Sehe ich mich und meine Zukunft positiv?
- Kann ich mich leicht neuen Dingen gegenüber öffnen?
- Nehme ich mir im Leben den Raum, der mir zusteht?
- Kann ich Grenzen wahren und respektieren?
- Verfüge ich über genügend Vitalität und Kraft?
- Verlasse ich mich öfters auf meinen Instinkt?
Aus: Mike Mandl „Meridiane - Landkarten der Seele“, Bacopa Verlag