03/10/2022
„AD(H)S? Schau mal, wie ewig der spielen kann, der könnte sich schon konzentrieren, wenn er nur wollte!“
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Es scheint paradox: Da ist unser Kind, das sich bei den Hausaufgaben keine fünf Minuten konzentrieren kann; das sich von jedem noch so kleinen Geräusch ablenken lässt, bereits nach kurzer Zeit aus dem Fenster schaut und vor sich hinträumt, das trödelt und an seinem Material herumfingert oder auf Blättern herumkritzelt, anstatt mit dem Lernen zu beginnen. Unser Kind, das immer wieder beteuert, wie „langweilig“ und „anstrengend“ das Ganze ist und dass es „jetzt wirklich nicht mehr mag!“
Vielleicht sind diese Schwierigkeiten so ausgeprägt, dass irgendwann eine Aufmerksamkeitsdefizit- / (Hyperaktivitäts-) Störung diagnostiziert wurde.
Nun beobachten wir unser Kind in der Freizeit, wenn es Lego baut, in seinen Pony-Heften schmökert, ein Videospiel zockt, seiner Leidenschaft fürs Zeichnen nachgeht oder die heiß geliebten Sammelkarten sortiert - und siehe da: die Aufmerksamkeitsprobleme sind wie weggeblasen!
Plötzlich kann es sich problemlos mehrere Stunden fokussieren und wirkt so vertieft, dass neben ihm offenbar „eine Bombe hochgehen könnte und es würde das nicht mal merken“.
„Dieses Kind hat ganz sicher kein Aufmerksamkeitsdefizit! Es kann sich doch sehr wohl konzentrieren, wenn es nur will!“ heißt es dann häufig aus dem Umfeld.
Das ist ein Trugschluss.
Bei einer AD(H)S handelt es sich nämlich nicht um ein generelles „zu wenig“ an Aufmerksamkeit, sondern um ein AUFMERKSAMKEITS-LENKUNGS-DEFIZIT.
Betroffenen fällt es schwerer, ihren Fokus bewusst und willentlich auf eine Aufgabe zu lenken und dabei alle Reize auszublenden, die aktuell nicht wichtig sind, z. B.: „Ok, ich muss jetzt diese Sachaufgabe im Mathebuch durchlesen ... was deine Geschwister da hinten spielen ist jetzt nicht wichtig! Bleib bei deiner Sachaufgabe.“
Es gelingt ihnen ingesamt schlechter, ihre Aufmerksamkeit willentlich zu steuern. Stattdessen wird ihre Aufmerksamkeit wie magisch angezogen von allem, was vergleichsweise spannend, groß, hell, laut, farbenfroh ist oder sich bewegt. An diesen Reizen bleibt ihr Fokus automatisch „hängen“ und es fällt ihnen schwer, sich davon zu lösen. Denn auch hierfür benötigt man die bewusste Aufmerksamkeitslenkung.
Warum zeigen sich die Konzentrationsprobleme ADHS-Betroffener nun beim Spielen kaum? Weil Tätigkeiten, für die wir intrinsisch (=von innen heraus) motiviert sind, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeitslenkung erfordern. Diese wirken von Natur aus derart anziehend, dass wir uns innerlich weniger steuern müssen.
Ein Beispiel: Das geliebte Computergame oder die Legoburg sind so stimulierend, dass sich unser ADHS-betroffenes Kind kaum innerlich sagen muss: „Oh, diese Zombiejagd ist jetzt aber langweilig, aber ich bleibe dabei ... Was ist deine Aufgabe? Okay, konzentriere dich aufs Spielen ... Wie gerne würdest du jetzt dieses Rechenblatt machen, das da liegt – aber das ist jetzt nicht wichtig, das blendest du jetzt besser aus.“
Dagegen erfordern Aufgaben, die von außen vorgegeben werden, dem Kind vergleichsweise repetitiv und langweilig oder geistig sehr anstrengend erscheinen, am meisten Aufmerksamkeitslenkung. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich die Auffälligkeiten ADHS-betroffener Kinder vor allem bei Tätigkeiten wie Hausaufgaben, dem Lernen für Prüfungen, dem Zimmeraufräumen oder längeren Veränderungsgesprächen zeigen. Hier muss das Kind nämlich andauernd seinen Impuls unterdrücken, etwas anderes, spannenderes zu tun. Sein Fokus verlagert sich schnell auf jeden noch so kleinen Reiz, der stimulierend wirkt und verbleibt dort. Seine Gedanken schweifen ab – unwillentlich.
Dass Kinder mit AD(H)S sich bei lustvollen, selbst gewählten Aktivitäten oft sehr gut, aber bei leidigen Pflichtaufgaben nur schwer konzentrieren können, ist also kein Paradoxon, sondern vielmehr Ausdruck ihres Kernproblems: einer beeinträchtigten Aufmerksamkeitslenkung.
Wie Sie es Kindern erleichtern können, ihre Aufmerksamkeit bewusst auf die Hausaufgaben oder das Lernen zu lenken, erfahren Sie in unserem Ratgeber „Erfolgreich lernen mit ADHS“. Er richtet sich an Bezugspersonen von Träumerchen und Wirbelwinden im Grundschulalter.
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Herzlich
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund