24/05/2022
Baby hat eine Lieblingsseite(lage) ? und das Köpfchen ist verformt
Die lagebedingte Plagiozephalie
Bevorzugt ein Baby bei der Kopfdrehung eine Seite, sollte es umgehend physiotherapeutisch behandelt werden, wie ich bereits in einem ausführlichen Beitrag mit vielen wissenschaftlichen Quellen erklärt habe (Link in den Kommentaren). Eine häufige Folge dieses sogenannten muskulären Schiefhalses ist eine Verformung des Kopfes: Der noch weiche Schädel kann auf der stärker belasteten Seite des Hinterkopfes sehr schnell abflachen und so zu einer asymmetrischen Kopfform führen (Plagiozephalie / Plagiocephalus). Häufig verschieben sich dabei die Ohren, sodass eines weiter vorne liegt und eines weiter hinten. Stirn und Gesicht sind oft auf der Seite abgeflacht, die der flachen Stelle am Hinterkopf diagonal gegenüberliegt.
Dieser lagebedingte Plagiocephalus kommt relativ häufig vor, je nach Studie beispielsweise bei 22 - 47% der 7-12 Wochen alten Babys (Bialocerkowski et al., Ballardini et al., Mawji et al., 2013). Er ist jedoch nicht nur ein kosmetisches Problem, wie eine wachsende Zahl an Studien zeigt. Denn während sich die Kopfform durch das Wachstum mit zunehmendem Alter glücklicherweise verbessert und 61% der Kinder nach 3-4 Jahren (Hutchison et al., 2011) bzw. 80% nach 5 Jahren eine als normal geltende Kopfform aufweisen (Van Vlimmeren et al., 2017) gibt es auch noch andere assoziierte Probleme.
Mehrere Studien finden einen Zusammenhang zwischen Plagiozephalie und Schwierigkeiten mit der kognitiven, psychomotorischen und sprachlichen Entwicklung (Kordestani et al., Collett et al., 2012&2013), sozialen Fähigkeiten und Problemlösekompetenz (Hutchison et al., 2009), Kommunikation, Gehör (Balan et al.), und Gesichtssinn (Siatkowski et al.) – jeweils im Vergleich zu Kindern ohne Kopfdeformitäten. Fowler et al. stellten fest, dass Babys mit einer Plagiozephalie signifikant häufiger einen auffälligen Muskeltonus zeigten als Kinder mit normaler Kopfform. Die genannten Studienergebnisse bedeuten nicht, dass alle Kinder mit Plagiozephalie Entwicklungsauffälligkeiten zeigen, aber sie tun dies deutlich häufiger als Babys mit symmetrischer Kopfform. Kim&Kwon fanden 2020 heraus, dass das Risiko für eine Entwicklungsverzögerung umso höher ist, je stärker der Kopf verformt ist.
Während einige Forscher*innen zu dem Schluss kommen, dass sich die im Zusammenhang mit einer Plagiozephalie aufgetretenen, großteils grobmotorischen Entwicklungsverzögerungen mit zunehmendem Alter verringern und mit durchschnittlich 17 Monaten der Norm annähern (Hutchison et al., 2012), finden andere selbst noch bei Kindergarten- und Schulkindern eine verzögerte Entwicklung im Bereich Sprache, Kognition, Verhalten und Motorik (Collett et al., 2013&2020) – allerdings nur bei moderater bis schwerer Plagiozephalie, nicht jedoch bei milder Ausprägung. Auch Korpilahti et al. fanden bei dreijährigen Kindern mit Plagiozephalie Sprachdefizite im Vergleich zu Kindern mit unauffälliger Kopfform.
In einer Fallstudie von 2020 (DeGrazia et al.) wurden in der Magnetresonanztomografie Veränderungen im Gehirn zweier Babys mit schwerer Plagiozephalie festgestellt. Nach einer Helmtherapie (Kopforthese – dazu ist auch noch ein Beitrag geplant) und der dadurch hervorgerufenen Verringerung der Schädeldeformation wurden auch die Auffälligkeiten im Gehirn geringer, verschwanden jedoch nicht ganz. Auch Collett et al. fanden bereits 2012 Auffälligkeiten im Gehirn-MRT von Kindern mit Plagiozephalie und einen Zusammenhang mit Entwicklungsauffälligkeiten.
Bei all diesen Problemen können Ursache und Wirkung (noch) nicht immer klar identifiziert werden (Henne-Ei-Problematik 😉 ) und weitere Forschung ist dringend notwendig, um die Zusammenhänge besser verstehen zu können. Dennoch zeigt sich eines deutlich: Bei Babys mit Kopfdeformitäten ist eine genaue Abklärung, entsprechende Behandlung und Verlaufskontrolle essentiell. Denn die Forschung beweist zwar nicht, dass ein Plagiocephalus die Ursache für eine Entwicklungsauffälligkeit sein kann (vielleicht ist er auch nur ein Symptom derselben), doch sie scheint jedenfalls ein Marker für ein erhöhtes Risiko zu sein (Martiniuk et al., Speltz et al.; Collett et al., 2020).
Randnotiz: Dass eine Plagiozephalie oft nicht erkannt wird, zeigt u.a. eine Bemerkung in der eben genannten Studie von Speltz et al., in der eine Gruppe von Kindern mit Plagiozephalie mit einer Kontrollgruppe mit normaler Kopfform verglichen wurde. Aus der ca. 300 Kinder umfassenden Kontrollgruppe mussten nämlich bei der initialen Untersuchung 70 Kinder ausgeschlossen werden, weil sie doch eine Plagiozephalie aufwiesen, die bisher weder den Eltern, noch den behandelnden Ärzt*innen aufgefallen war.
Wie verhindert man nun das Auftreten eines Plagiocephalus beim eigenen Kind? Mehrere Studien und Reviews (u.a. Bialocerkowski et al., Van Vlimmeren et al, 2007; Leung et al.) zeigen, dass viel Zeit in Rückenlage ein Risikofaktor ist. Als in den 90er Jahren propagiert wurde, Babys nur noch in Rückenlage schlafen zu lassen, reduzierte das die Fälle des plötzlichen Kindstods (SIDS) um 40-60%. Diese erfreuliche Tatsache wurde jedoch von einem Anstieg lagebedingter Kopfdeformitäten um 400-600% begleitet (Marshall & Shahzad). Babys sollten daher zum Ausgleich im Wachzustand mehrmals täglich in Bauchlage gebracht werden (Aarnivala et al., Bialocerkowski et al., Hewitt et al., Ellwood et al., Marshall & Shahzad, Persing et al., Pin et al., Sargent et al., Van Wijk et al., Wittmeier et al.,). Auch Tragen reduziert die in Rückenlage verbrachte Zeit und damit das Risiko für eine Plagiozephalie, auch im Vergleich zum Transport mittels Kinderwagen (Rogers et al., Pastor-Pons et al.).
Van Vlimmeren et al. (2007) fanden außerdem ein höheres Risiko für mit der Flasche ernährte Kinder, vor allem, wenn diese immer auf demselben Arm gefüttert wurden. Mehrere Studien zeigen, dass Erstgeborene häufiger betroffen sind, und männliche Babys öfter als weibliche. Motorisch langsamere oder körperlich wenig aktive Babys hatten außerdem öfter eine Plagiozephalie als aktive und sich schnell entwickelnde Babys (De Bock et al., Van Vlimmeren, 2007; Hutchison, 2004).
In einer Studie von Lennartsson (2020) wurde ein Präventionsprogramm getestet, in dem Eltern u.a. angewiesen wurden, ihre Babys im Wachzustand regelmäßig in Bauchlage zu bringen, sie zu tragen, den Aufenthalt in Wi**en und Babyschalen auf ein Minimum zu reduzieren (das empfehlen auch andere Quellen wie z.B. Marshall & Shahzad, Pin et al.), bei Flaschenfütterung den Arm zu wechseln und beim Schlaf in Rückenlage auf wechselnde Kopfdrehung zu achten. Im Vergleich zur Kontrollgruppe hatten die Babys, deren Eltern wie erwähnt instruiert wurden, ein dreimal niedrigeres Risiko, eine bleibende Plagiozephalie zu entwickeln. Bestand mit zwei Monaten eine Plagiozephalie, war die Wahrscheinlichkeit, dass diese mit vier Monaten wieder verschwunden war, neunmal höher, wenn die Eltern über die Empfehlungen Bescheid wussten.
Wichtig ist nicht nur, dass man von Geburt an genau darauf achtet, ob das Baby eine „Lieblingsseite“, also einen Schiefhals zeigt, sondern auch, dass man einen solchen umgehend physiotherapeutisch behandeln lässt – je früher, desto besser (Kaplan et al., Cabrera-Martos et al., Marshall & Shahzad). Ob bei einer Plagiozephalie eine Restverformung zurückbleibt und wie stark diese ausgeprägt ist, hängt direkt mit dem Zeitpunkt des Behandlungsbeginns zusammen (Marshall & Shahzad).
In einer Studie von Rogers et al. (2009) an 6 Monate alten Babys mit Plagiozephalie zeigte sich, dass bei 95% von ihnen die Kopfdrehung zu einer Seite eingeschränkt war. Nur bei 24% davon wurde dies im Vorfeld jemals diagnostiziert oder behandelt. Ein muskulärer Schiefhals wird also häufig übersehen – für Kinderphysios keine neue Information. In vielen meiner Beiträge habt ihr schon gelesen, dass die Früherkennung motorischer Probleme bei Babys noch sehr ausbaufähig ist. Ich freue mich daher sehr, wenn ihr meinen Beitrag teilt, damit das Problem bekannter wird und Plagiozephalien seltener werden 😊
P.S.: Es gibt auch eine andere Form der Plagiozephalie, die durch vorzeitigen Verschluss einzelner Schädelnähte entsteht (Kraniosynostose) und operativ behandelt werden muss. Mit einer lagebedingten Plagiozephalie verwechselt werden kann höchstens die Synostose der Lambdanaht, die Unterscheidung ist jedoch anhand optischer Merkmale und CT möglich (Huang et al., Ellenbogen et al., Hurmerinta et al.) und es handelt es sich dabei um eine der seltensten Kraniosynostosen (Reardon et al.).
--
© Text und Bild: Kathrin Mattes
Die Literaturliste findet ihr auf meiner Website (Link in den Kommentaren). Dort gibt es auch die Möglichkeit, einen selbst gewählten Betrag in meine Schokokeks-Kasse zu werfen, wenn ihr meine Schreib- und Recherchearbeit unterstützen wollt. Natürlich freue ich mich auch sehr über nicht-monetäre Unterstützung in Form von Likes, Teilen, Speichern, Kommentieren etc. 😊
Kopieren und Veröffentlichen, auch auszugsweise, ist wie immer nicht erlaubt, da Text und Bild meinem Urheberrecht unterliegen.