02/08/2025
Die Sage vom Schatzhauser im grünen Tannenwald
Wie das Glasmännlein einem Holzschlagbuben das Herz prüfte
Hört mich nun, ihr Kinder des Nebels, ihr Wanderer zwischen den Welten, die ihr mit wachem Herzen durch das Geäst der alten Wälder streift. Nicht alle Schätze der Erde glänzen in Gold, nicht jeder Geist ist ein Schatten der Finsternis.
In den Tiefen des Schwarzwaldes, wo der Nebel dicht am Boden schleicht und die Tannen sich raunen von uralter Zeit, haust ein Wesen, klein an Gestalt, doch groß an Prüfung. Er nennt sich der Schatzhauser, das Glasmännlein, ein Wächter des alten Waldes, geboren aus Glas und Atem, aus Licht und Schweigen.
Lange vor der Zeit des Buchdrucks, ehe der Mensch dem Wald seine Seele raubte, wurde diese Sage unter Jägern und Köhlern, unter Glasmachern und Fuhrleuten von Mund zu Mund getragen. Nun will ich, Merlin, sie euch neu erzählen, so wie ich sie einst selbst im dunklen Tannenwald aus dem Munde eines alten Glasbläsers vernahm.
Die Sage vom Glasmännlein
Es war vor langer Zeit, als der Schwarzwald noch wilder war und der Mensch kaum wagte, sich über die schmalen Pfade hinauszuwagen. Dort lebte ein junger Bursche namens Michel, ein Holzschlagbub mit starken Armen, doch einem unruhigen Herzen. Er war fleißig, doch sein Blick schweifte stets zu jenen, die mehr besaßen als er, zu jenen mit schweren Säcken, gefüllt mit Münzen, zu Herren mit glänzenden Westen und leichten Händen.
Eines Tages hörte er vom Schatzhauser, einem kleinen Männlein, kaum eine Spanne hoch, das tief im Wald zwischen dreimal neun Tannen wohnte. Wer es sah, so hieß es, durfte sich drei Wünsche von reinem Herzen erbitten, doch wehe dem, der gierig oder töricht wählte.
Michel machte sich auf den Weg, barfuß und mit pochendem Herzen. Drei Tage und Nächte irrte er, bis er vor einer alten Lichtung stand, auf der das Licht wie Glas schimmerte. Und da, aus dem Moos heraus, trat das Glasmännlein hervor: grün gewandet, mit einer kleinen Zipfelmütze und funkelnden Augen, als schimmerten darin Sterne.
„Dreimal darfst du wünschen“, sprach es, „doch dein letzter Wunsch zeigt, wer du bist.“
Michel wünschte zuerst Geld. Und er erhielt es. Dann wünschte er Stärke. Und sie floss in seine Glieder wie Feuer. Doch beim dritten Wunsch zögerte er – und wünschte sich ein Wirtshaus, prunkvoll, voller Gäste, in dem er der Herr sei.
Da runzelte das Glasmännlein seine kleine Stirn. „Ach Michel“, sprach es leise, „du hast viel gewählt und wenig erkannt.“ Und mit einem Seufzen verschwand es.
Das Wirtshaus ward gebaut, die Gäste kamen, doch der Glanz verging. Die Münzen zerrannen wie Sand zwischen seinen Fingern, und seine Kraft wich mit dem Alter. Am Ende saß Michel allein auf der Bank, sein Herz leer, sein Geist schwer.
Da, eines Tages, erschien das Glasmännlein noch einmal. Es trat zu ihm und sagte: „Ein viertes Mal darfst du nun bitten, wenn du nicht Reichtum, nicht Macht, nicht Stolz begehrst. Was ist’s nun, Michel, das dein Herz wirklich will?“
Und Michel, alt geworden, doch endlich weise, sprach: „Ich wünsche mir ein warmes Herz, das mitfühlt, und offene Augen, die sehen, was gut ist.“
Da lächelte das Männlein, und ein Wind ging durch die Tannen. Und Michel, so heißt es, lebte noch viele Jahre, als Helfer im Wald, arm an Gut, doch reich an Sinn.
Ein letzter Rat:
„Wenn ihr einem Geist des Waldes begegnet, so denkt daran: Nicht alle Schätze funkeln. Die größten leuchten in eurer Brust. Wählt weise, was ihr vom Leben erbittet, denn der letzte Wunsch zeigt stets, wer ihr seid.“
Und nun, zieht weiter mit offenen Sinnen und einem stillen Ohr für das Raunen der Bäume.
Denn wer weiß? Vielleicht wartet das Glasmännlein auch auf euch.
Mögen die Gottheiten stets über euch wachen!