23/08/2025
Praxisgespräche: Wenn die Abwertung der Frauen tief wirkt
Wie Aufstellungsarbeit Frieden zwischen Mann und Frau bringen kann
Sie sitzt mir gegenüber, die Schultern ein wenig nach innen gedreht, und sagt ohne Umschweife:
„Ich wünsche mir so sehr eine liebevolle Beziehung. Aber ich treffe immer wieder denselben Typ Mann. Erst aufmerksam und zärtlich … und dann kippt es: kalt, abwertend, unnahbar.“
Während sie spricht, spüre ich die Mischung aus Sehnsucht und Müdigkeit. Auf meine vorsichtige Frage, wie sie selbst über Männer denkt, antwortet sie halb im Scherz, halb im Ernst:
„Ehrlich? Ich finde sie oft mühsam und eigentlich zu nicht wirklich viel zu gebrauchen.“
✨Das Dilemma ist spürbar:
der Wunsch nach Nähe – und eine innere Abwertung, die genau diese Nähe unbewusst wieder fortschiebt. Gleichzeitig erzählt sie, dass ihre Mutter sich früh vom Vater getrennt hat, der dann nur noch sporadisch in ihrem Leben auftauchte. Das Muster ist vertraut.
✨Ihre Geschichte
Als wir die Familienlinien anschauen, zeigt sich eine Kette von Unterbrechungen und Verlusten:
• Väterliche Seite: Männer, die viel arbeiteten und emotional kaum erreichbar waren; Männer, die früh starben – einige im Krieg.
• Mütterliche Seite: Männer, die nie heirateten oder die Frauen früh verließen, Verbindungen, die von Anfang an brüchig waren. Der Vater ihrer Mutter starb, als diese vier Jahre alt war – zu früh, zu plötzlich.
• Sie selbst ist Einzelkind – viel Blick der Familie auf sie, viel unausgesprochenes Erbe auf ihren Schultern.
Je deutlicher die Fäden werden, desto klarer zeigt sich: Es geht nicht nur um „ihre“ Erfahrungen mit Männern, sondern um ein geerbtes Beziehungsklima – Frauen, die allein zurückbleiben; Männer, die gehen oder nicht wirklich da sind. Und in den Frauen wächst als Schutz die Abwertung: „Auf die kann man sich nicht verlassen.“
✨Die Aufstellung
Ich schlage vor, „sie selbst“, „ihre Mutter“, „ihren Vater“ und als Ressource die „„gute Beziehung“ in den Raum zu stellen.
Das erste Bild ist eindrücklich:
• Der Vater steht abgewandt, wie betäubt, ohne spürbaren Kontakt.
• Die Mutter blickt auf den Boden, innerlich leer, wie an einer unsichtbaren Stelle festgebunden.
• Sie selbst möchte zur „guten Beziehung“, doch diese wendet sich ab und signalisiert: „Mit dir will ich nichts zu tun haben.“
Es ist ein schmerzhaft klares Bild: Die Liebe ist da – aber sie dreht sich weg, als müsse sie sich schützen.
✨Der Prozess
Um tiefer zu gehen, lege ich einen Stellvertreter für „den Vater der Mutter“ in die Aufstellung – den Großvater, der starb, als seine Tochter vier war. Die Mutter reagiert sofort: Wut, Abwehr. Sie wendet den Blick ab. Ich stelle „die Großmutter“ dazu – und, weil das Feld danach ruft, auch „deren Eltern“: Urgroßmutter und Urgroßvater.
Hier beginnt sich die verborgene Geschichte zu zeigen:
• Der Urgroßvater (er hat die Ur-Großmutter nie verheiratet – einfachheitshalber nenne ich ihn hier Ur-Großvater). Er hat die Familie verlassen.
• Die Urgroßmutter ist tief verletzt; in ihr hat sich Verachtung als Rüstung verfestigt.
• Die Großmutter trägt die Leere und Abwertung, die daraus entstand – und gibt sie unbewusst weiter.
Ich frage behutsam, was in der Familie über den Urgroßvater erzählt wurde. Sie erinnert sich: Er stammte aus sehr wohlhabendem Hause, vermutlich missbilligte seine Familie die Verbindung. Als diese Worte im Raum sind, beginnt der Stellvertreter des Urgroßvaters zu weinen. Er schaut seine Frau (Geliebten) an:
„Ich wäre so gerne geblieben. Ich konnte nicht. Bitte verzeih mir.“
Die Urgroßmutter rührt sich, die starre Verachtung weicht Trauer. Es gelingt eine vorsichtige Annäherung, schließlich eine Umarmung. Die Liebe, die zwischen ihnen war, darf wieder einen Platz finden. In diesem Moment spüre ich, wie das Feld weicher wird: Die „gute Beziehung“ entspannt sich spürbar. Die Großmutter wird traurig – nicht hart –, die Mutter kann den Blick heben und zu ihren Ahnen schauen.
Jetzt wird deutlich: Die Wut und das Misstrauen der Frauen gegenüber Männern sind kein persönlicher Makel, sondern ein „geerbter Schutz“. Generationenlang hat er gehalten, was er sollte – schützen. Und doch verhindert er heute genau das, was sie sich wünscht: Bindung.
Nun darf die Mutter endlich um ihren Vater trauern, den sie mit vier verloren hat. Sein Stellvertreter wendet sich ihr zu:
„Ich wollte bleiben. Ich hätte dich nie verlassen.“
Er starb bei einem Autounfall – es war kein Weggehen, sondern ein Abriss.
✨Die Lösung
Ich lade meine Klientin ein, sich selbst in dieses nun beweglicher gewordene Feld zu stellen. Sie schaut und sieht, wie viel Einsamkeit sie getragen hat, wie sehr die alten Geschichten in ihren Beziehungen weiterwirkten. Sie verneigt sich innerlich vor den Ahnen: „Ich sehe und achte euer Schicksal. Danke, dass ich lebe.“ Und sie gibt zurück, was nicht zu ihr gehört: die harte Abwertung, die nicht ihre war, sondern eine ererbte Rüstung.
Dann wendet sie sich ihren Eltern zu. Der Vater ist noch weit weg – gebunden an seine eigene Geschichte. Die Mutter schaut nun zu ihm und sagt:
„Du hattest bei mir keine Chance. Das hatte nichts mit dir zu tun.“
Er atmet auf – und kann denselben Satz zurückgeben. Zwischen beiden entsteht ein stilles „Schade“: jene Sorte Frieden, die nichts beschönigt und doch entlastet.
In dieser Atmosphäre dreht sich die „gute Beziehung“ nun von selbst zu meiner Klientin. Kein Drängen, kein Festhalten – eher ein sanftes Einverständnis: „Jetzt ja.“
Wir lassen es an dieser Stelle. Integration braucht Zeit. Ich lade sie ein, das Bild wirken zu lassen – und später, wenn der Impuls kommt, die väterliche Linie noch einmal gezielt anzuschauen.
✨Ein Jahr später
Sie meldet sich wieder. Die Stimme klingt heller.
„Die alte Abwertung ist weg“, sagt sie. „Ich schaue anders auf Männer. Nicht naiv – aber offen. Ich spüre wieder Neugier und Respekt.“
Sie möchte weiterarbeiten – jetzt mit der Vaterseite. Nicht mehr aus Not, sondern aus freier Entscheidung.
Ich erlebe solche Prozesse immer wieder als stilles Wunder: Wenn eine jahrzehntelang vererbte Härte weicher wird, entsteht Platz – für Zuwendung, Respekt und die Möglichkeit, sich wirklich zu begegnen. Und manchmal beginnt genau dort eine Liebe, die bleiben kann. 🌿
Foto: reni (pinterest)