27/05/2025
Medizinisches Gaslighting -
Wenn Symptome abgetan werden
Wenn Ärzte chronische oder schwer fassbare Beschwerden ignorieren oder als „psychosomatisch“ abtun, sprechen Betroffene und Medien von Medical Gaslighting (fachsprachlich auch „Symptominvalidierung“).
Eine aktuelle Übersichtsarbeit der Rutgers University hat dieses Phänomen untersucht. Die Forscherinnen werteten 151 qualitative Studien mit über 11.000 Patient*innen mit schwer zu diagnostizierenden Erkrankungen aus – etwa mit Fibromyalgie, Long Covid, Endometriose, Lupus, Ehlers-Danlos Syndrom, Reizdarm, ME/CFS, POTS, Multiple Chemikalien Sensibilität (MCS), Vulvodynie und Golfkriegssyndrom.
Die Ergebnisse zeigen klar: Wird ein Leiden als „eingebildet“ abgetan, erleiden Betroffene oft langfristige Schäden. So berichten Patient*innen, dass sie nach solchen Erfahrungen an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln: „Bilde ich mir das alles nur ein? Ist das alles nur in meinem Kopf?“
Diese Selbstzweifel gehen häufig einher mit ernsten psychischen Folgen – von Depression über Suizidgedanken bis hin zu ausgeprägten Ängsten im Kontakt mit dem Gesundheitssystem
Die Studie fasst die Folgen medizinischen Gaslightings in vier Kategorien zusammen:
* Emotionale Schäden:
Betroffene fühlen sich beschämt, zweifeln an sich selbst und entwickeln ein geringes Selbstwertgefühl
* Misstrauen gegenüber Ärzt*innen:
Das Vertrauen in Mediziner schwindet, Arztgespräche werden als frustrierend erlebt
* Verhaltensänderungen:
Viele Patient*innen berichten, dass sie nach einer Gaslighting-Erfahrung ihre Beschwerden absichtlich herunterspielen, damit sie nicht übertrieben oder dramatisch wirken.
Manche meiden sogar grundsätzlich Arztbesuche, selbst bei anderen gesundheitlichen Problemen
* Diagnoseverzögerung:
Weil Symptome nicht ernst genommen werden, bleiben notwendige Untersuchungen aus. Das kann zu einer verzögerten oder komplett fehlenden Diagnose führen und damit die Erkrankung verschlimmern
Doch die Studie liefert auch konkrete Handlungsempfehlungen:
Ärztinnen sollten Patientinnen und ihre Symptome ernst nehmen, auch wenn sie (noch) keine klare Diagnose finden können. Anstatt reflexartig zu beruhigen („Wahrscheinlich ist es nichts Ernstes“), empfiehlt die Studienleiterin Allyson Bontempo, Unsicherheit offen zuzugeben. Patientinnen schätzen es demnach, wenn Mediziner*innen sagen: „Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich höre Ihnen zu“ (Ich persönlich würde allerdings hoffen, dass sein Engagement darüber hinaus geht).
Auch für Patientinnen gibt es Tipps:
Da es oft schwerfällt, sich in Arztgesprächen Gehör zu verschaffen, kann es helfen, eine vertraute Person mitzunehmen. So können Zeugen – Partnerin, Freundin oder Angehörige – die Beschwerden belegen, falls Unklarheiten auftauchen.
Darüber hinaus empfehlen die Forscherinnen, sich über Ärzt*innen-Bewertungen zu informieren und sich notfalls eine zweite Meinung einzuholen.
Ausblick
Die Rutgers-Studie macht deutlich, dass Medizinerinnen lernen müssen, besser mit diagnostischer Unsicherheit umzugehen - zum Wohl der Patientinnen.
Wenn Ärzt*innen nicht sofort wissen, was eine Patientin hat, sollten sie das ehrlich kommunizieren und die Symptome trotzdem ernst nehmen – statt sie vorschnell als „psychisch“ oder „harmlos“ abzutun. Die Studie zeigt, dass gerade dieser Umgang mit Unsicherheit entscheidend ist, um Medical Gaslighting zu vermeiden.
Die Publikation endet mit dem Appell, medizinische Teams besser zu schulen und systematisch Strategien zu entwickeln, um Symptominvalidierung zu verhindern.
Denn nur so lässt sich verhindern, dass Patient*innen durch Gaslighting langfristig psychisch und körperlich Schaden nehmen.
Original Publikation in der Psychological Bulletin 151(4) aus 2025 :
https://psycnet.apa.org/fulltext/2026-10154-001.html
Gute englische Zusammenfassung:
https://www.rutgers.edu/news/when-doctors-dismiss-symptoms-patients-suffer-lasting-harm
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Historische Beispiele:
Medizinisches Gaslighting ist kein neues Phänomen. Zahlreiche einst umstrittene - und vornehmlich bei Frauen vorkommende! - Krankheiten wurden lange als „psychisch“ abgetan – bis sich herausstellte, dass es organische Ursachen gab. Beispiele sind:
* Multiple Sklerose (MS):
Im frühen 20. Jahrhundert oft mit Hysterie ("Konversionshysterie") oder anderen psychischen Leiden fehldiagnostiziert. Erst mit besserer Ausbildung und Diagnostik wurde klar, dass es sich um eine neurologische Erkrankung handelt.
* Endometriose:
Forscher*innen vermuten, dass viele historisch mit „Hysterie“ diagnostizierte Frauen tatsächlich an Endometriose litten.
Auch heute erleben Betroffene immer noch, dass ihre starken Schmerzen als Einbildung abgetan oder als psychisch fehlgedeutet werden.
* Fibromyalgie:
Früher u.a. als „psychogenes Rheuma“ beschrieben. Viele Mediziner glaubten, die Schmerzen und Erschöpfung lägen an Stress oder „nervösen“ Störungen.
Oft wurden speziell Frauen stereotype Rollenbilder zugeordnet („übertrieben emotional“), statt die Krankheit als organisch zu erkennen. Erst seit wenigen Jahrzehnten gilt Fibromyalgie als anerkanntes neurologisches Syndrom
* ME/CFS (Chronische Fatigue-Syndrom): Jahrzehntelang galt ME/CFS in großen Teilen der Ärzteschaft als Mode- oder psychische Erkrankung. Betroffene berichten, dass ihnen bis heute vorgeworfen wird, „simulieren“ zu wollen oder einfach faul zu sein, obwohl die Erkrankung international längst als reale Folge von Infektionen anerkannt ist.
A Rutgers Health review of 151 studies finds that minimizing unexplained symptoms sparks shame, trauma and avoidance of care.