06/06/2023
Die versteckte Wurzel
ge gen (Puerariae Lobatae Radix, Kopoubohnenwurzel)
Legenden ranken sich um die Kräuter der Chinesischen Medizin, schöne Erzählungen, die darüber berichten, wie dieses oder jenes Kraut seinen Weg in den Schatz der Traditionellen Arzneimittel fand. Nebenbei vermitteln diese Geschichten Einblicke in die reiche chinesische Kultur und das Alltagsleben. Hier die 11. Folge der «EXTRAKT»-Serie.
In einer abgelegenen und dicht bewaldeten Bergregion lebte einst ein alter Mann, der Heilkräuter sammelte. Eines Tages hörte er die Rufe von Menschen zu ihm aufsteigen. Er reckte den Hals, um ins Tal hinunterzublicken. Bald sah er einen etwa 14-jährigen Knaben:
Felsblöcke überkletternd und Bäume umgehend rannte der Junge geradewegs auf ihn zu. Bei ihm angekommen, fiel er auf die Knie.
«Alter Grossvater, bitte rette mich. Sie wollen mich töten», bat er unter tausend Bücklingen.
«Wer bist du?» «Ich bin der Sohn des Fürsten Ge.
Ruchlose Minister haben am Königshof falsche Anschuldigungen gegen meinen Vater vorgebracht. Sie sagen, er sei Teil einer Verschwörung zu einem rebellischen Aufstand. Der törichte König glaubt das und hat Soldaten geschickt, unsere Heimstatt zu umzingeln und die ganze Familie umzubringen. Mein Vater sagte zu mir: ‹Du bist unser einziger Sohn. Wenn man dich tötet, wird unsere Familie aussterben. Darum musst du fliehen. Wenn du erwachsen bist, wirst du die Wurzel unserer Familie sein.› Also rannte ich weg. Aber jetzt haben mich die Soldaten gefunden. Alter Grossvater, wenn du mich rettest, rettest du unsere ganze Familie!» Der alte Mann wusste, dass der Fürst Ge seit vielen Jahren ein treuer Diener des Herrschers war. Darum wollte er dessen Sohn retten. Aber die Truppen kamen näher und näher. Er blicke zurück, den Berg hoch. «Steh auf und folge mir.» Der Knabe folgte dem alten Mann zu einer verborgenen Höhle und versteckte sich dort. Drei Tage lang suchten die Truppen des Königs den Berg ab, sie konnten den Jungen aber nicht finden.
Dann holte der alte Mann den Jungen aus der Höhle und fragte ihn: «Wohin gehst du jetzt?» «Meine ganze Familie wurde gefangen genommen und man wird sie alle töten. Weil du mich gerettet hast, werde ich dir von nun an dienen. Und wenn du stirbst, werde ich Trauerkleider tragen. Nimmst du mich bei dir auf?»
«Sicher», sagte der alte Mann. «Du kannst bei mir bleiben. Aber ich bin ein Kräutersammler. Jeden Tag muss ich den Berg hochsteigen. Du wirst es nicht so angenehm haben wie als junger Herr in deiner Familie.» «Ich kann allerhand Entbehrungen ertragen.» Von da an stieg der Sohn des Fürsten Ge täglich auf den Berg, um zusammen mit dem alten Mann Kräuter zu sammeln. Der alte Mann grub immer die Wurzelknollen desselben Grases aus, die Fieber, Durst und Durchfall zu heilen vermochten.
Nach einigen Jahren starb der alte Mann. Der Sohn des Fürsten Ge hatte sich dessen Fähigkeiten inzwischen angeeignet. Auch er grub diese Wurzelknollen aus und nutzte
sie, die verschiedensten Beschwerden zu heilen. Bis dahin hatte diese Heilpflanze keinen Namen. Als ihn die Leute fragten, wie die Pflanze heisse, dachte er an seine eigene Erfahrung und sagte: «Das Kraut heisst ge gen.» Der Name ge-Wurzel weist darauf hin, dass die ganze Familie des Fürsten Ge vernichtet worden war, ausser ihm, der Wurzel.
Quellen:
• Chris Flanagan (Hrsg.). Chinese Herbal Legends. 2006, People’s Medical
Publishing House, Beijing
• Ding Zhao Ping (Hrsg.). Qu wei zhong yao. 2003, Verlag Ren min wei
sheng chu ban shi, Beijing