20/08/2025
Dr. rer. nat. Kurt Theodor Oehler
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Der demokratische Prozess
Demokratie ist die Krone der Staatsorganisation
und die Demokratie-Reife das entscheidende Kriterium für den Erfolg
demokratischer Strukturen
Mit einem Vorwort des ehemaligen
Schweizer Bundesrates und Bundespräsidenten
Dr. h. c. Kaspar Villiger
Vorbemerkung zur zweiten Auflage
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse in der Ukraine, in Israel, im Iran und seit neuestem auch in China vollkommen neu überarbeitete und auf den neusten Stand gebrachte neue Herausgabe des vormals vergriffenen Buches mit dem Titel „Hat die Demokratie noch eine Zukunft?“, das im Jahre 2018 in einem Schweizer Verlag erschienen war.
Besonderen Wert lege ich dabei auf die besondere Heraushebung der großen Bedeutung der Demokratie als Staatform und auf meine These, dass alle Gruppen, seien sie nun klein wie Studiengruppen, Schulklassen oder exekutive Organe oder groß wie Städte oder Staaten, automatisch und naturgesetzlich bedingt in logischen Schritten demokratischen Strukturen entgegenstreben.
Erstaunlicherweise glaubt mir das, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum jemand. Besonders nicht Politologen. Sie meinen, dass es den Menschen in erster Linie um persönliche Bedürfnisse, z. B. um das Essen und um ein Dach über dem Kopf gehe. Niemand scheint mir zu glauben, dass es sich bei der Entwicklung zur Demokratie hauptsächlich um einen äußerst komplexen und existenziell wichtigen Bewusstseinsprozess handelt.
Meine wichtigste These lautet deshalb, dass die Demokratie die Krone aller Staatsformen darstellt und die Demokratie-Reife das entscheidende Kriterium für den Erfolg demokratischer Strukturen bedeutet.
In diesem Sinne ist dieses Buch ein optimistisches Buch. Die demokratische Staatsform und die damit verbundene liberale Wirtschaftstätigkeit werden sich auf lange Sicht gesehen über alle Hindernisse hinweg doch noch durchsetzen.
Ein renommierter Schweizer Universitätsprofessor für Demokratieforschung fand an meinen Thesen keinen Gefallen. Er meinte, dass der Begriff der Demokratie-Reife einen inhärenten Prozess in eine bestimmte Richtung vorgebe. Das könne er nicht glauben.
Das ist aber entscheidend. Die Demokratie ist nicht etwas, das als organisatorisches Konstrukt existiert und jedem Staat ohne Beachtung der bestehenden psychosozialen Voraussetzungen einfach aufgesetzt werden kann. Im Gegenteil. Demokratie-Reife ist das Ergebnis eines sehr langen und oft sehr schmerzhaften geistigen Entwicklungsprozesses.
Die demokratische Staatsform kann nur in Staaten erfolgreich sein, die in einem naturgesetzlich verlaufenden langen Entwicklungsprozess echte Demokratiefähigkeit erlangt haben. In diesem Sinne ist es nicht möglich, sondern eher ein hoffnungsloses Unterfangen, einem Staat, der noch nicht Demokratie-Reife erlangt hat, erfolgreich und nachhaltig die Staatsform Demokratie überzustülpen.
Immer wieder wird argumentiert, dass es die Armut, der Hunger und die allgemeine Not in einem Land seien, die den revolutionären Geist der Völker befeuert. Die Wahrheit ist eine andere. Es geht erst an zweiter Stelle um persönliche Bedürfnisse oder materielle Werte, sondern primär um geistige Werte.
Gibt es eigentlich eine Demokratie ohne ein menschlich reifes demokratisches Bewusstsein? Es genügt nicht, nur die Institutionen und Organisationen zu verändern. Alles hängt, - in erster Linie - von der Veränderung des Bewusstseins ab. Oder ist das schöngeredet oder gar unnötig dramatisiert?
Das offenbart sich in aller Deutlichkeit in der Kleingruppendynamik. Die Teilnehmer einer Studiengruppe sind nicht arm. Im Gegenteil. Das sind Menschen, die sich eine entsprechende Veranstaltung durchaus leisten können. Ihnen geht es auf dem Weg zur Demokratiefähigkeit ihrer Gruppe weder ums Geld noch ums Essen. Die entscheidenden Prozesse vollziehen sich auf einer ganz anderen und meist auch unbewussten Ebene - auf einer geistigen Bewusstseinsebene.
Der Weg zur Demokratiefähigkeit kann in einer Studiengruppe auf eindrückliche Weise und in alles Phasen sehr differenziert erlebt und mit allen spezifischen Details studiert werden.
Das unterstreicht auch die Erkenntnis, dass der „Wandel durch Handel“ nicht wirklich funktioniert. Der Handel bringt zwar mehr an Kontakten und generiert einen intensiven Transfer an Wissen und Gütern. Diese Kontakte führen aber kaum zu einer Bewusstseinsveränderung. Es fehlen unter anderem die entschlossene Auseinandersetzung um geistige Werte und die offene Kritik an den bestehenden Verhältnissen.
Zwar wird immer wieder versucht, bei internationalen Begegnungen die Wertediskussion anzusprechen, was aber oft und mit Recht als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates verstanden wird. Es zeigt sich, dass sich die entscheidenden Elemente der Beziehungen zwischen den Ländern, das gegenseitige Kennenlernen, Verstehen und Vertrauen im Angesicht der politischen Realitäten immer wieder als äußerst schwierig erweisen.
In Wirklichkeit geht es um das Vertrauen, um die Beziehungen, um die Art der Zusammenarbeit, um den Aufbau von Institutionen und um ein ungebrochenes Selbstwertgefühl. Es geht um die Entschlossenheit, gemeinsam ein funktionsfähiges Ganzes aufzubauen, das den Bürgern ein Maximum an inneren und äußeren Freiheiten zugesteht. Das hat wenig mit Geld oder Essen zu tun, sondern in erster Linie mit einem Netz von Institutionen, mit dem Willen zur Unabhängigkeit und Selbstbestimmung und schließlich mit der Versammlungs-, Gesinnungs- und Redefreiheit. Es geht um geistige Werte.
Der Untertan in einer Monarchie erlebt und denkt anders als der selbstbewusste Bürger einer westlichen Demokratie. Für den treuen Untertan einer echten Monarchie stellt der Monarch das Urbild einer Mutter dar, die alles kann, die alles weiß, die für alles sorgt und alle Bedürfnisse abdeckt. Das entspricht psychodynamisch gesehen dem Modus eines ungeborenen Kindes. Ein unzufriedener Untertan kämpft höchstens um mehr Essen und für ein sicheres Dach über dem Kopf.
Im Gegensatz dazu kämpft der selbstbewusste Staatsbürger einer Demokratie um etwas ganz anderes. Die Menschen kämpfen z.B. in der Ukraine, in erster Linie nicht nur für ihr Essen und für ihren Lebensstandard. Sie kämpfen auch nicht für ein Dach über dem Kopf. Die Ukrainer kämpfen in erster Linie für ihre Unabhängigkeit von Russland, für ihre Freiheit und die Menschenrechte. Es geht letztlich um die Würde des Menschen und um die Staatsform der Demokratie. Diese Einstellung hat eine ganz andere Qualität als die von passiv erleidenden und politisch unmündigen Untertanen.
Zwischen den beiden Haltungen gibt es eine geistige Entwicklung, die z. B. sowohl von den Psychologen als auch von den Psychohistorikern genau studiert werden kann. Die Entwicklung oder Entwicklungsbedingungen dieses Andersdenkens erforscht besonders die sog. Psychohistorie. Dabei geht es weniger um den eigentlichen historischen Prozess, sondern eher darum, wie die historischen Bedingungen die Erziehung der Kinder, das Denken der Menschen und speziell das menschliche Bewusstsein verändern.
Es gibt deshalb zwischen einem Bürger, Handwerker, Bauern, Stadtbewohner usw. die gehorsam und unterwürfig den Anordnungen ihrer Monarchen gehorchen, die ungefragt und unkritisch den erblichen Nachfolgeprozess akzeptieren und die Macht der Herrschenden samt ihrer Entourage fraglos anerkennen - und einem von den westlichen Werten überzeugten freien Staatsbürger, der geistig mündig, aufgeklärt und unabhängig die bürgerlichen Freiheitsrechte in Anspruch nimmt, einen großen Unterschied. Ein Unterschied im Fühlen und Denken. Letztere verhalten sich so, um wiederum mit den Worten der Psychohistoriker zu sprechen, wie erwachsene Menschen, die sich geistig aus dem Fötus- oder Kleinkindalter über die aufmüpfige Pubertät hinweg langsam und konfliktreich bis ins Erwachsenenalter hindurchgekämpft haben.
Vor der Französischen Revolution waren die Bürger arm, hungrig und litten unter überzogenen Steuern. Sie sahen, dass der Adel und vor allem die Königshäuser in ihren Privilegien schwelgten und auf Kosten der verarmten Bevölkerung ausgelassen prassten. Die Bürger erkannten, dass diese Privilegien nicht gottgegeben und selbstverständlich waren, sondern ungerecht und, was noch entscheidender ist, nicht gott-, sondern menschengemacht.
Das änderte ihr Bewusstsein. Sie forderten Gerechtigkeit und kämpften nicht mehr nur ums Essen, ein Dach über dem Kopf und gegen zu hohe Steuern, sondern für weit anspruchsvollere Ziele wie Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit - und schließlich für die Republik oder die Demokratie.
Bei diesem Umdenken geht es in erster Linie um das menschliche Bewusstsein.
Die Menschen, die von ihrer Ausbildung her überwiegend technisch, materialistisch und mechanistisch denken, befinden sich in ihrem Denken in einem Habenmodus. Es geht um Können und Macht haben, um Einfluss und Beziehungen generieren und möglicherweise auch um Ehre und Ruhm erhalten.
Im Gegensatz dazu geht es Menschen, die sich in erster Linie mit geistigen Werten auseinandersetzen, um den Seins-Modus. Es geht um Werte wie frei sein, selbstständig sein, mündig, gerecht, kommunikativ, vernetzt, ehrlich, empathisch und erwachsen zu sein.
Dieser Unterschied ist nicht selbstverständlich. Er ist ein Unterschied im Denken und im Bewusstsein, meist auch im Unterbewusstsein. Das einseitig gegenständliche und materielle Denken ist wie eine Volkskrankheit, ein Defizit im mentalen Reifungsprozess.
Das Bewusstsein ist das Ergebnis eines automatisch sich vollziehenden und naturgesetzlich bedingten mentalen Entwicklungsprozesses, der eine Funktion des (groß-) gruppendynamischen Prozesses darstellt.
Ein erwachsener Mensch kann trotz des entwickelten Selbstbewusstseins die Welt nicht im Alleingang ändern. Er kann nur etwas ändern, wenn er sich mit Gleichgesinnten zusammentut und sich mit diesen vernetzt. Dann gewinnt er im Zusammengehen mit anderen Menschen an Macht, Einfluss und Durchsetzungskraft.
Es ist also die Gruppe und deren Dynamik, die erst die Umgestaltung möglich macht. Erst wenn es in organisierter Form viele Menschen gibt, die gleich denken und über ein gleichentwickeltes Bewusstsein verfügen, kann ein demokratisches Bewusstsein und damit die Demokratie als Staatsform gelingen.
Eine solche Haltung ist nicht mehr mit einem unterwürfigen und demütigen Verhalten in einer mental rückständigen, ungerechten und diktatorischen Autokratie vereinbar. Ein Mensch, der in einer selbstständigen, liberalen und gerechten Gesellschaft eine eigene und unverwechselbare Identität entwickelt hat, wird sich bewusst mit den Werten einer freiheitlichen und gerechten Demokratie identifizieren und wird sich nie mehr freiwillig monarchischen oder diktatorischen Anmaßungen unterwerfen.
Viele Leser mögen sich darüber wundern, dass in diesem Text immer wieder biblische Geschichten und Assoziationen zu religiösen Ritualen angeführt werden. Das ist nicht zufällig so. Die politischen oder historischen Ereignisse sind stets mit religiösen und entwicklungspsychologischen Faktoren und damit auch mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins verknüpft. Der Zusammenhang zwischen Religionen und Gruppendynamik wird hier nicht deswegen aufgezeigt, weil die Gruppendynamik viel mit den Religionen zu tun hätte, sondern umgekehrt, weil die Religionen viel mit Gruppendynamik zu tun haben. Das ist so, weil die Inhalte und Rituale der Religionen stets ein symbolisches Abbild des gruppendynamischen Prozesses darstellen. Damit soll nicht zuletzt die Mehrdimensionalität des Menschen betont werden.
Die politischen Strukturen korrelieren stets mit dem psychischen Reifegrad der betroffenen Menschen. Eine reife Demokratie kann nicht von Menschen getragen werden, die der psychischen Reife entbehren, die devot, unterwürfig sind und ein schwaches Selbstbewusstsein haben.
Die Veränderung der Gesellschaft und damit des Bewusstseins ist das Ergebnis eines automatisch sich vollziehenden und naturgesetzlich bedingten Entwicklungsprozesses sowohl auf der soziologischen als auch auf der psychologischen Ebene, der modellhaft und sich stets wiederholend in logischen Schritten nach den Regeln des (groß-) gruppendynamischen Prozesses verläuft und in Studiengruppen bis ins letzte Detail genau studiert werden kann.
Aus diesen Gründen wird in diesem Buch versucht, sowohl den kleingruppendynamischen als auch den großgruppendynamischen Prozess differenziert und in Verbindung mit politischen, psychologischen, psychoanalytischen, psychohistorischen und letztlich auch religiösen Aspekten herauszuarbeiten. Dabei wird das Vorwort des ehemaligen Schweizer Bundesrates und Staatspräsidenten Dr. h. c. Kaspar Villiger im Einverständnis des Autors in leicht gekürzter Form in die neue Ausgabe übernommen. Dieses Vorwort bezieht sich aber nur auf die ersten fünf Kapitel des vorliegenden Textes. In Anbetracht der gegenwärtigen Weltlage und der Aktualität der augenblicklichen politischen Ereignisse wurden speziell im Hinblick auf den Überfall Russlands auf die Ukraine und den laufenden Nah-Ost-Konflikt drei weitere Kapitel hinzugefügt.
Dieses Vorgehen wird die interessierten Leser oder Leserinnen bestimmt zu ganz neuen Betrachtungsweisen und erhellenden Einsichten führen.
Zimmerwald, 10. August 2025
Dr. rer. nat. Kurt Theodor Oehler