19/10/2024
„Ich möchte doch noch leben…“
Strahlend blaue Augen sehen uns bei diesem Satz an. Kämpferisch. Wütend. Energisch und müde zugleich.
Hätte sie vor Jahren all das gewusst, eben so wie es jetzt ist, wäre die Entscheidung „zur“ Therapie vielleicht eine Entscheidung „gegen“ die ganze Belastung geworden.
Sie hätte sich dann vielleicht nicht durch all die Torturen gequält und hätte sich mehr aufs Leben konzentriert. Gleichzeitig ist sie vielleicht jetzt überhaupt noch da. Wegen der Therapie. Im Leben. Bei ihrer Familie. Ihrem Mann. Ihren Kindern. Kann an allem teilhaben. Noch hat sie sich nicht aufgegeben. Noch stellt sie sich alldem. Den Therapien. Dem, was die moderne Medizin alles so für sie bereithält.
Sie will einfach noch nicht sterben. Sie will leben. Solange es eben geht. Die Kinder sind noch zu klein, um ohne die Mama aufzuwachsen. Und wieder leuchten diese Augen und Energie blitzt auf. Mut und Wut treffen aufeinander umgeben von Angst und Verzweiflung. Greifbar stehen sie im Raum. Habe auch Hoffnung ist da. Hoffnung, dass es noch Zeit gibt. Schöne Zeit. Erfüllte Zeit. Auch wenn, oder gerade weil, jetzt ein Palliativteam mit an ihrer Seite ist.
Wir hören zu. Sind einfach da. Versuchen nicht zu antworten… auf Fragen, die gar nicht gestellt werden. Möchten nicht leere Worthülsen zum Trösten geben.
Das Aussprechendürfen und Gehörtwerden sind jetzt in dem Moment viel wichtiger als ein vermeintlicher Trost, der vermutlich jetzt für die Patientin keiner wäre.
Ich merke selbst, wie mich das alles sehr berührt und ich bin gleichzeitig froh, berührbar geblieben zu sein in all den Jahren, in denen ich schwer kranke und sterbende Menschen begleite.
Auch wenn man als Außenstehender nie wirklich fühlen kann, was die Betroffenen fühlen, wird mir dennoch bewusst, welches Glück ich in diesem Moment habe, da ich gesund sein darf und all die existenziellen Nöte, die die junge Frau durchfluten, nur höre und nicht selbst durchleben muss. In diesem Moment.
Ich bin aber auch dankbar, dass ich dieses Vertrauen geschenkt bekomme, dass sie von all dem erzählt und uns, meine Mitarbeiterin und mich, teilhaben lässt.
Vielleicht, weil wir eben nicht Teil der Familie sind. Weil sie bei uns Last abgeben kann und sich an uns anlehnen darf, ohne das Gefühl zu haben, ihre Familie damit zu überfrachten.
Die Angst, Last zu sein, ist neben alldem, was selbst auf den Patienten drückend liegt, noch eine große, zusätzliche Not.
Also hören wir zu. Geben Ohr und Schulter. Sind in dem Moment für die Patienten der sichere Platz, an dem sie aus der Rolle des Angehörigen, aus der Rolle des Mutter, der Rolle der Ehefrau oder der Tochter herausschlüpfen können in die Rolle des eigenen Ichs und für einen Moment ihren Schmerz vor die eigenen Tür stellen können.
In der Hoffnung, dass irgendjemand diesen Seelenmüll mitnimmt.
Und wieder leuchten die Augen auf, und diesmal ist es nicht der Mund, der spricht, sondern ihr Blick, der sagt:
„Ich will doch noch leben...“