10/08/2022
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Keyfacts zu lumbalen Bandscheibenvorfällen 🔑 🔑 🔑
📍 Der Begriff "Ischialgie" bezieht sich auf Schmerzen im Bereich des Nervus ischiadicus, allerdings wird diese Bezeichung häufig unterschiedslos für Rücken- und Beinschmerzen verwendet. "Radikulopathie" bezieht sich speziell auf Schmerzen mit möglichen motorischen und sensorischen Störungen im Bereich einer Nervenwurzelverteilung. Nachdem eine lumbale Stenose, Spondylolisthesis und Frakturen ausgeschlossen wurden, wird bei etwa 85 % der Patienten mit ischialgieformen Beschwerden ein Bandscheibenvorfall festgestellt. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25806916/
📍Die bandscheibenbedingte Radikulopathie scheint sowohl ein biochemischer als auch ein mechanischer Prozess zu sein. Der Kontakt des Nucleus pulposus mit einer Nervenwurzel provoziert eine Entzündung, die notwendig zu sein scheint, damit eine mechanische Kompression überhaupt Schmerzen verursacht. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17036418/
Ein Bandscheibenvorfall verursacht nicht unbedingt Schmerzen; die MRTs von symptomfreien Menschen zeigen häufig Bandscheibenvorfälle, wobei die Prävalenz von Bandscheibenvorfällen mit dem Alter zunimmt. Daher können die Symptome fälschlicherweise auf zufällige MRT-Befunde zurückgeführt werden. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25430861/
📍 Sowohl genetische als auch umweltbedingte Faktoren können wichtige Ursachen für einen Bandscheibenvorfall sein. Epidemiologische Studien deuten darauf hin, dass schwere körperliche Aktivität und Zigarettenrauchen Risikofaktoren sind. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21270695/, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29792997/
Studien zur familiären Häufung und Zwillingsstudien legen nahe, dass genetische Faktoren für Bandscheibendegenerationen - und herniationen prädisponierenden können. Diese Faktoren scheinen mit der Kollagenstruktur bzw. der Strukur anderen Bandscheibenelementen in Zusammenhang zu stehen. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15564917/
📍 Der natürliche Verlauf von Bandscheibenvorfällen in der Lendenwirbelsäule ist im Allgemeinen günstig, allerdings erholen sich Patienten mit dieser Erkrankung langsamer als Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen. In einer Studie, an der Patienten mit einem Bandscheibenvorfall teilnahmen, bei denen keine Indikation für eine sofortige Operation bestand, gaben 87 % der Patienten nach 3 Monaten weniger Schmerzen an. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9971865/
Selbst in randomisierten Studien, an denen Patienten mit persistierenden Ischiasbeschwerden teilnahmen, verbesserte sich der Zustand der meisten Patienten auch ohne Operation. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17538084/, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17119140/
📍 Die Situation von Patienten mit Bandscheibenvorfällen, die motorische Defizite aufweisen und die mit einer einzelnen Nervenwurzel korrespondieren (z.B. Schwäche bei Dorsalflexion des Fußes), verbessert sich ebenfalls mit der Zeit. In einer Studie waren 81 % der Patienten mit anfänglicher Parese nach einem Jahr ohne Operation wiederhergestellt. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24200407/
Sensorische Defizite können hartnäckiger sein; die Heilungsrate liegt nach einem Jahr bei 50 %. MRT-Untersuchungen zeigen, dass die meisten Bandscheibenvorfälle im Laufe der Zeit schrumpfen, bis zu 76 % bilden sich im Laufe eines Jahrs teilweise oder vollständig zurück. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/1440010/
📍 95% der Bandscheibenvorfälle scheinen die Ebenen L4-L5 oder L5-S1 zu betreffen. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27144851/. Die aus der Anamnese und der körperlichen Untersuchung des Patienten gewonnenen Daten (vgl. Graphik) weisen bezüglich der Diagnose eine moderate Genauigkeit auf. Allerdings sollte man hier wissen, dass weder die klassischen Dermatom-Karten (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ca.20636, https://www.youtube.com/watch?v=BZYtAR4zUpg) noch die klassischen myotomalen Kennmuskeln (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35561698/) zur Diagnostik der betroffenen Nervenwurzel hinreichend valide sind.
📍 Eine CT- oder MRT-Untersuchung wird routinemäßig nicht empfohlen und ist nur bei Patienten erforderlich, deren Zustand sich mit konservativer Behandlung innerhalb von 4 bis 6 Wochen nicht gebessert hat und die als Kandidaten für eine epidurale Glukokortikoid-Injektion bzw. eine Operation in Frage kommen. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24831502/, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27144851/
📍 Kohortenstudien deuten darauf hin, dass sich der Zustand vieler Patienten mit einem lumbalen Bandscheibenvorfall innerhalb von 6 Wochen bessert; daher wird in der Regel eine konservative Therapie für 6 Wochen empfohlen, sofern kein größeres neurologisches Defizit vorliegt. In einer Studie berichteten 36 % der Patienten über eine Verbesserung nach nur 2 Wochen; dieser Prozentsatz stieg bei längerer Nachbeobachtung erheblich an. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16517383/.
📍 Die Wirkung von oralen verabreichten Schmerzmitteln (NSAR, Paracetamol, systemische Glukokortikoide, Opioide), ist bei einer Ischialgie sehr begrenzt. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27144851/
📍 Epidurale Kortikoid-Applikation sorgen im Vergleich zu Placebo-Applikationen für eine etwas bessere Schmerzlinderung (um 7,5 Punkte auf einer 100-Punkte-Skala) und eine funktionelle Verbesserung in kurzfristiger Hinsicht (nach 2 Wochen). Längerfristig gab es allerdings keine Vorteile, auch nicht bezüglich der OP-Rate. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26302454/
📍 Wichtig erscheint es, Aktivität zu fördern. Die Evidenz für überwachte Trainingsprogramme ist allerdings begrenzt. Kurzfristig (allerdings nicht langfristig) zeigt sich im Vergleich zur bloßen Konsultation ein Vorteil im Hinblick auf die Schmerzreduktion. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26165218/. Eine aktuelle Übersichtsarbeit betont bei symptomatischen Bandscheibenvorfällen ein Training der motorischen Kontrolle. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35701082/
📍 Patienten mit schweren oder fortschreitenden neurologischen Ausfällen benötigen eine Überweisung zur Operation. Eine elektive Operation ist eine Option für Patienten mit kongruenten klinischen Zeichen/Symptomen und MRT-Befunden und einem Zustand, der sich nicht innerhalb von 6 Wochen bessert. Der größte Vorteil einer Operation ist die schnellere Linderung der Beinbeschwerden als bei konservativer Behandlung, allerdings sind die Ergebnisse einer frühen chirurgischen und einer längeren konservativen Behandlung nach einem Jahr Nachuntersuchung ähnlich. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/6857385/, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17023847/, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17538084/, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17119140/
Patienten und Ärzte sollten in dieser Hinsicht im Sinne einer partizipative Entscheidungsfindung zusammenarbeiten.
Figure: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMcp1512658