03/08/2023
Der Zeitpunkt eine Psychotherapie zu beginnen ist dann gegeben, wenn Sie ehrlicherweise feststellen,
a) …dass die Essstörung immer mehr das eigene Denken beherrscht und im Alltag immer mehr Zeit beansprucht, wie z.B. für exzessiven Sport, Rituale rund ums Essen, heimliches Essen etc. Wenn Sie merken, dass immer weniger Zeit bleibt für Ihre sozialen Kontakte zugunsten Ihrer Essstörung oder auch die Arbeit, das Studium darunter leiden, dann warten Sie nicht allzu lange, sich therapeutische Hilfe zu holen. Essstörungen haben nämlich die Eigenschaft, sich zu verselbständigen und mit der Zeit immer schlimmer zu werden. Manche Betroffene haben zu Anfang vielleicht nur eine Essattacke pro Woche, dann zwei oder drei, dann jeden Tag, dann mehrere an einem Tag…bis der ganze Tag mit Essen und Erbrechen verbracht wird. Lassen Sie es nicht so weit kommen. Zudem müssen Sie bedenken, dass es Zeit braucht, die richtige Therapeutin zu finden.
b) …dass der eigene Leidensdruck stärker wird, obwohl Sie sich doch so zusammenreißen. Wenn Sie Ihren Leidensdruck auf einer Skala von 0 = kein Leidensdruck bis 10 = sehr starker Leidensdruck einordnen, ist es ein guter Zeitpunkt bei 5-6 mit einer Psychotherapie zu beginnen. Ein guter Indikator ist auch Ihre Arbeitsfähigkeit oder sozialer Rückzug. Wenn Sie sich zwar schon deutlich beeinträchtig fühlen, aber noch arbeitsfähig sind, genügt meist eine ambulante Therapie. Wenn Sie schon krankgeschrieben sind, sich gar Suizidgedanken zeigen, sich sozial isolieren, dann sollten Sie einen stationären Aufenthalt vorziehen. Vergleichen Sie es mit Behandlungen beim Zahnarzt: Wer schon früh, mit einem kleinen Löchlein im Zahn zum Zahnarzt geht, kommt meist mit einer simplen Zahnfüllung davon. Wer so lange wartet, bis der Nerv sich entzündet, die Backe anschwillt und starke Schmerzen entstehen, braucht oft eine langwierige und kostspielige Wurzelbehandlung, Antibiotika und starke Schmerzmittel. Statt dem vermeintlich heroischem „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“, ist ein früher Behandlungsbeginn ein Akt der Selbstfürsorge, der tiefes Leiden für sich selbst und sein Umfeld erst gar nicht entstehen lässt.
Viele glauben, es müsste ihnen erst mal so richtig schlecht gehen, bis sie Therapie „verdient“ hätten und denken, sie nehmen anderen einen Platz weg, wenn sie selbst noch nicht ganz „auf dem Zahnfleisch“ kriechen. Das mag vielleicht ein ehrenwerter Gedanke sein, anderen, denen es vermeintlich schlechter geht, den Vortritt zu lassen. Jedoch ist niemandem damit geholfen. Im Gegenteil: Wer so lange wartet, bis die Talsohle erreicht ist, braucht meist viel länger und intensivere Hilfe, z.B. Klinikaufenthalte, Medikamente etc.. Oder umgekehrt gedacht: Wer sich früh genug Hilfe holt, kann sein Problem u.U. in viel kürzerer Zeit in einer ambulanten, statt in einer stationären Therapie angehen. Das spart nicht nur Zeit, sondern auch eigene und fremde Ressourcen.
Zudem profitieren Sie vielmehr von Psychotherapie, wenn Sie nicht erst mit „Aufschlagen in der Talsohle“ mit der Psychotherapie beginnen. Ist man erst mal ganz unten angelangt, braucht es viel Stabilisierungsarbeit, d.h. viel, viel Vorarbeit, um in einen Modus zu kommen, in dem Sie überhaupt erst therapiefähig sind. Sie brauchen eine gewisse Stabilität um die Arbeit an Ursachen und Lösungen zu beginnen. Wenn es Ihnen nicht ganz so schlecht geht, kann man direkt schon mit der eigentlichen Therapiearbeit beginnen.
Ein guter Zeitpunkt für Therapie wäre, wenn es gerade etwas ruhiger läuft in Ihrem Leben, z.B. in oder nach Ihrem Urlaub. Viele denken dann zwar oft: „Och, jetzt ist es doch gerade gut! Wieso soll ich überhaupt Therapie machen?“ Und meist stimmt es ja, im Urlaub ist es oft tatsächlich besser. Aber Sie kennen sich, die nächsten Hoch-Stressphasen kommen bestimmt und mit ihnen sind auch all die Symptome wieder da. Erst dann mit Therapie zu beginnen, wenn der Stress voll zuschlägt, ist keine gute Idee. Meistens rennt man da „im Schweinsgalopp“ und mit Tunnelblick durch den Alltag und hat keine geistigen Kapazitäten für Neues. Wenn Sie z.B. wissen, vor Weihnachten „steppt der Bär“, dann fangen Sie im Sommer schon an mit der Psychotherapie, z.B. den Umgang mit Stress zu erlernen und zu üben. Die meisten Methoden muss man eine Weile einüben, bis man sie „draufhat“, damit man sie in Stresszeiten abrufen kann. Somit ist jetzt die richtige Zeit.
c) …dass sich bereits körperliche Begleiterscheinungen zeigen, wie bei Essstörungen typischerweise Zyklusschwankungen, Magen-Darm-Beschwerden, Zahnschäden, Gelenkschmerzen, Konzentrationsstörungen auf der Arbeit, Schlafstörungen, Herz-Rhythmusstörungen etc.
d) …dass andere Menschen in Ihrem Umfeld sich sorgen. Sie mögen vielleicht genervt davon sein, doch würde ich das nicht einfach so abtun. Es hat meist gute Gründe, wenn andere sich Gedanken machen. Die Wahrnehmung der anderen ist besonders dann wichtig, wenn man, wie bei der Essstörung gerne in einer hartnäckigen Krankheitsuneinsichtigkeit gefangen ist, und alle Symptome und Begleiterscheinungen mit anderen Gründen zu erklären versucht, anstatt die Essstörung als Grund dafür anzuerkennen. So hatte ich einmal eine Patientin mit Haarausfall aufgrund der durch die Essstörung verursachten Hormonschwankungen. Es tat ihr sehr gut, von ihrer Freundin mit der Nase auf die eigentliche Ursache gestoßen zu werden, statt sich und den anderen vorzumachen, die Betäubungsspritze beim Zahnarzt habe den Haarausfall ausgelöst.
e) …dass Ihr /e PartnerIn, Ihre Kinder oder gute Freunde unter den Auswirkungen der Essstörung leiden. Eine Essstörung macht Stimmungsschwankungen, die dann meist die liebsten Menschen im eigenen Umfeld „abkriegen“. Lassen Sie nicht zu, dass Ihre Essstörung zu immer mehr Verletzungen Ihrer Liebsten führt und diese sich irgendwann von Ihnen abwenden.
f) …dass Sie selbst schon alles Mögliche versucht haben, aber alleine nicht weiterkommen. Es ist kein Versagen, wenn man selbst nicht weiterkommt, sich fachliche Hilfe zu holen. Für Profis etwa in Wirtschaft und Sport ist das eine Selbstverständlichkeit. Werden Sie ihr eigener Profi in Sachen Selbstfürsorge und doktern Sie nicht zu lange mit den ewig gleichen Methoden an der Essstörung herum. Mehr vom Selben, wie noch mehr Sport, noch striktere Diät, gehen meist nach hinten los. Das haben Sie selbst vermutlich schon oft genug erfahren. Psychotherapie kann ein Ausstieg aus dem ewig gleichen Hamsterrad bedeuten und dabei helfen, nicht nur Ihre Symptomatik zu verstehen, sondern Handlungsalternativen mit Ihnen finden.
g) …wenn Sie aus eine psychosomatischen Klinik entlassen werden. Viele denken dann oft, „Puh! Geschafft! Jetzt will ich nichts mehr damit zu tun haben, sondern mein normales Leben wieder aufnehmen.“ Einerseits verständlich, andererseits muss das in der Klinik Gelernte im Alltag gefestigt und geübt werden. Da fängt die eigentliche Arbeit an und da ist es besser, dies mit therapeutischer Begleitung zu tun. Viel zu groß ist die Gefahr, nach der Klinik in ein Loch fallen oder es greifen die alten, krankmachenden Strukturen wieder nach einem und man findet sich unversehens in alten Bewältigungsmustern wieder. Deswegen ist es unabdingbar, nach der Klinik ambulant weiter zu machen.