25/09/2025
"Das maßgeschneiderte Zelt"
Das Bild des Zeltes verdeutlicht, wie der Körper Spannungen aufnimmt und verteilt. Ein freistehendes Zelt kennt seine Mitte und richtet sich selbst aus. Wird jedoch an einer Seite gezogen, verformt sich die Konstruktion: manche Bereiche fallen ein, andere werden überdehnt. Dauerhafte Züge führen zu struktureller Überlastung, Rissen oder Instabilität an den Haltepunkten.
Die zentrale Frage in der Osteopathie lautet daher nicht: Wie stütze ich die eingedrückte Stelle?, sondern:
• Wer oder was zieht am Zelt?
• Wie lange besteht dieser Zug schon?
• Ist er vielleicht noch funktional?
Das therapeutische Vorgehen entspricht einem dosierten Öffnen eines Ventils: Spannungen werden behutsam abgeleitet, sodass der Organismus Gelegenheit hat, eine neue Mitte zu finden. Diese neue Mitte ist Ausdruck von Anpassung, nicht von Rückkehr zu einem „Normalzustand“.
Die Metapher des Schneiders unterstreicht dies: Der Körper verändert sich, und wie ein Schneider passt die Therapie den „Anzug“ aus Faszien und Bindegewebe an. Ziel ist eine funktionelle Passform, die Reibung, Überlastung und Fehlspannungen reduziert.
Wissenschaftlicher Hintergrund
• Faszien und Spannungsausgleich: Faszien verteilen Kräfte, speichern Spannungsgeschichten und sind zentral für Bewegung und Stabilität (Schleip et al., 2012; Stecco, 2014).
• Tensegrity-Prinzip: Der Körper verhält sich wie ein tensegrales System – kleine Veränderungen wirken sich global aus (Levin, 2002).
• Neue Mitte: Heilung bedeutet ein neues Gleichgewicht (Allostasis), nicht Rückkehr zum Ausgangszustand (Cameron et al., 2018).
• Dosis: Dosierte, graduelle Impulse fördern Regulation, während plötzliche, zu starke Reize instabil machen können (Bialosky et al., 2009).