08/05/2023
Das Unsagbare
Der Mann ist ein Hüne, eine eindrucksvolle, aufrechte Erscheinung. Der Körper ist durch jahrelanges Training geformt. Aber auch verhärtet, wie verpanzert, ein Schmerz, der nie aufhört.
Bei einem Attentat auf eine Moschee in Afghanistan sind viele Menschen getötet worden. Er hat geholfen, das Chaos aufzuräumen, menschliche Überreste eingesammelt. Seitdem lassen ihn die Bilder nicht mehr los. Nicht am Tag, nicht in der Nacht. Etwas sei mit seinem Kopf nicht richtig, sagt er. Ein aufbrausendes Temperament, habe er vorher schon gehabt. Er sucht Hilfe mit spürbarer Dringlichkeit. Er sorgt sich um Kontrollverlust, wenn er wütend wird, verlässt er den Container mit Frau und Kindern, um sich zu regulieren, es ist nie etwas geschehen, er kennt sich gut. Nach einer Woche energetischer Behandlungen in Kombination mit Homöopathie geht es dem Mann deutlich besser. Nach der ersten Behandlung schon hatten die Schmerzen erstmals für ein paar Stunden aufgehört. Jetzt, die Schmerzen reduziert, die Albträume haben aufgehört, dadurch ist der Schlaf erholsamer, das Nervensystem beginnt, sich zu beruhigen, der Mann ist deutlich zugewandter, nachdenklich. Er entschuldigt sich für seinen cholerischen Ausbruch einer Kollegin gegenüber vor Beginn der Behandlung.
Die Arbeit mit dem Afghanen berührt mich und macht auch mich nachdenklich. Ich arbeite gerne mit ihm, ich sehe seine Not. Und: ich sehe, dass es für viele Menschen möglicherweise schwierig ist, mit ihm zu arbeiten.
Es braucht ein Durchdringen auch der emotionalen Verpanzerung, ein Hindurchsehen durch die Schicht von Wut, Verteidigungsmechanismen, Cholerik. Ein Verstehen, dass sich die traumatischen Erfahrungen bei Männern häufig anders zeigen als bei Frauen – dass die Not aber genauso groß ist – es aber für die Helfer viel schwieriger ist, diese männlichen Klienten in ihrem inneren Schmerz zu erkennen.
Und es bringt mich zu einem weiteren Schritt. Es gibt etwas Unsagbares, ein Teil seiner Geschichte der nicht ausgesprochen werden darf. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, oder nur eine Wahrnehmung von mir, weil es ein Tabu ist, das auf viele der Männer im Camp zutrifft. Sie leiden nicht nur unter dem, was sie als Unrecht erfahren haben, sondern auch unter dem, was sie selbst getan haben. Wer als Mann aus einem von Bürgerkrieg, Chaos und Machtmissbrauch geprägten Land kommt, gerät früher oder später in die Situation, seine Familie, sein Dorf, seine ethnische Gruppe zu verteidigen. Bei vielen Männern, die ich hier kennen gelernt habe, ist es bei ihrem Stolz und Mut, ihrer Aufrichtigkeit und ihrem Selbstverständnis schwer vorstellbar, dass sie in unmittelbaren Gefahrensituationen nicht das aus ihrer Sicht Notwendige zur Verteidigung unternehmen.
Wenn sie ihre Heimat dann verlassen haben, und so lange sie dann auf der Flucht sind, erfüllen sie nach wie vor ihre Familienrolle, zu schützen, zu organisieren, zu führen. Im Camp angekommen, entfällt all dies und ich beobachte regelmäßig, dass in dieser Situation die Männer deutlich stärker zunächst kollabieren, als die Frauen. Die Vergangenheit holt sie ein in der Untätigkeit des Camps, dem Warten auf unbestimmte Zeit und der Ohnmacht, den undurchsichtigen Asylverfahren ausgeliefert zu sein. Was sie verfolgt, ist das Unrecht, das ihnen geschehen ist oder deren vielfache Zeugen sie geworden sind, aber manchmal eben auch das, was sie getan haben.
Weil es unsagbar bleibt. Weil es ein Tabu ist. Weil sie vergessen wollen. Weil sie Angst haben, etwas könnte ihr Asylverfahren gefährden. Und: aus Scham. Je länger das Unsagbare unausgesprochen bleibt, desto mehr inneren Raum nimmt ist es ein. Es frisst sich durch das Innere und macht krank an Seele und Körper. Aus meiner Sicht ist es zutiefst notwendig, diesen Männern zu helfen, ihren inneren Raum zu leeren: für sie selbst als Individuen, für ihr persönliches Umfeld, aber auch für uns alle als Kollektiv ist Heilung an dieser Stelle unabdingbar.
März 2023