24/08/2025
TIEFGANG
Sich zu verlieben – das ist einfach.
Die Ekstase, die Aufregung, der Neubeginn – all das fühlt sich wie ein Rausch an. Aber wahre Liebe, die Art von Liebe, die zu einer Beziehung mit Tiefe und echter Begegnung führt, erfordert Mut und Arbeit. Sie bedeutet, sich immer wieder füreinander zu entscheiden, jeden einzelnen Tag.
Nicht, weil der andere fehlerlos ist. Nicht, weil es sich immer gut anfühlt. Nicht einmal wegen der schönen Dinge, die man teilt oder der Eigenschaften, die man am anderen so sehr bewundert.
Sondern weil einem das Gegenüber so unendlich viel bedeutet, weil die Beziehung so heilig ist, dass man sich das Leben ohne diese Person an der eigenen Seite nicht vorstellen kann.
Und das bedeutet, in die Tiefen seiner selbst zu schauen – in die eigenen Abgründe, die eigenen Wunden und Verletzlichkeiten.
Denn wahre Liebe bringt oft an die Oberfläche, was wir so lange verborgen hielten: die Teile von uns, die wir so sorgfältig versteckt haben, zusammen mit den Emotionen, die wir so lange zu unterdrücken versucht haben.
Wenn jemand sein Herz für uns öffnet und sich wirklich für uns entscheidet, kann das erschreckend sein.
Wir verbringen die Hälfte unseres Lebens damit, uns danach zu sehnen, gesehen und geliebt zu werden für das, was wir wirklich sind. Doch wenn es wirklich geschieht, laufen wir oft davon, weil es bedeuten würde, uns in einer Weise verletzlich zu machen, die sich beängstigend anfühlt.
Sich vollständig für jemanden zu entscheiden bedeutet, eine Grundlage zu schaffen, die sich sicher anfühlt – einen Raum, in dem Fehler, Missverständnisse oder tiefe Verletzungen nicht zu Rückzug oder Abbruch führen, sondern dazu, gemeinsam Lösungen zu finden.
Und als ob das nicht schon beängstigend genug wäre, müssen wir auch darauf vertrauen, dass dieser Mensch uns niemals absichtlich zerstören wird. Wir müssen darauf vertrauen, dass unser Partner nicht nur unser Bestes im Sinn hat, sondern auch, dass wir in der Lage sein werden, mit dem Schmerz umzugehen, der unvermeidlich entsteht, wenn zwei unvollkommene Menschen mit offenen Herzen aufeinandertreffen.
In einer Beziehung haben wir oft diese unrealistische Erwartung,
dass wir niemals verletzt werden,
dass diese Person keine Seiten oder Verhaltensweisen zeigt, die wir nicht mögen, niemals Fehler macht.
Wir erwarten die übermenschliche Fähigkeit, dass unser Gegenüber jederzeit seine eigenen Monster und Dämonen unter Kontrolle hat. Niemals aus alten Wunden auf uns blutet. Und doch wird genau das passieren. Denn wir sind Menschen und machen Fehler – wir sind unperfekt.
Doch sollten wir das große Glück haben, jemanden an unserer Seite zu haben, der lernwillig und fähig ist, Verantwortung für sein Handeln und seine Gefühle zu übernehmen und sich um Wachstum bemüht, dann ist das das größte Geschenk:
Nicht Perfektion.
Sondern jemand, der den Mut hat, seine eigenen Muster zu erkennen.
Jemand, der das Potenzial in uns und in der Beziehung sieht –
und bereit ist, mit uns gemeinsam zu wachsen.
Und ist es nicht seltsam?
In Freundschaften akzeptieren wir selbstverständlich, dass es Entscheidungen, Eigenheiten oder Charakterzüge des anderen gibt, mit denen wir nicht immer einverstanden sind. Wir lieben sie trotzdem, wir bleiben.
Doch in romantischen Beziehungen, in denen wir behaupten, jemanden noch tiefer zu lieben, erwarten wir plötzlich Perfektion. Und das nur, weil unsere verletzten kindlichen Anteile so sehr hoffen, in diesem Menschen endlich die Heilung für alten Schmerz zu finden.
Wir sehnen uns danach, dass er oder sie das wiedergutmacht, was unsere Eltern oder Bezugspersonen damals nicht geben konnten oder vielleicht sogar verletzt haben. Aber das ist keine Liebe. Das ist die unbewusste Hoffnung, dass jemand die Leere unserer Kindheit füllt, dass jemand uns das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Wert schenkt, das wir so lange vermisst haben.
Wahre Liebe dagegen beginnt dort, wo wir den anderen nicht länger als Retter oder Heiler brauchen, sondern ihn als freien Menschen sehen – und ihm erlauben, Fehler zu machen, ohne dass gleich unsere ganze Welt zusammenbricht.
Gemeinsam für befreyte Zeiten. Janina Freynhagen.
Wünscht du dir beim eigenen Wachstum Begleitung, findest du mich unter: befreyung.com