
13/04/2020
Hier das Interview zum Artikel der NP!
Pastor und seine Frau bieten Telefonseelsorge an – „weil es notwendig ist“
Der ehemalige Pastor Harry Flatt-Heckert und seine Ehefrau Diane Heckert aus Pattensen-Jeinsen helfen beruflich Menschen in Krisen und Konfliktsituationen. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie bieten sie eine kostenlose Telefonseelsorge an.
Harry Flatt-Heckert und seine Frau Diane Heckert hören den Menschen am Telefon zu und geben ihnen Zuspruch. Quelle: Privat Jeinsen
Mit ihrem Zweimannbetrieb Themenwerk Mensch beraten und begleiten der ehemalige Jeinser Pastor Harry Flatt-Heckert und seine Frau Diane Heckert Menschen in privaten und beruflichen Fragen sowie bei der Lösung von Konflikten und Krisen. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie bieten sie von Jeinsen aus unter der Telefonnummer (05066) 984346 eine kostenlose Telefonseelsorge an. Die HAZ sprach mit dem freien Theologen, Trauerbegleiter und psychologischen Berater sowie der Diplom-Pflegewirtin und psychologischen Beraterin darüber, was Menschen in der Corona-Krise bewegt und wie sie mit ihren Ängsten umgehen können.
Warum bieten Sie die kostenlose Telefonseelsorge an?
Harry Flatt-Heckert: Weil es notwendig ist. Viele Menschen sind in diesen Tagen von völliger sozialer Isolation betroffen. Die Maßnahmen, die die Regierung zur Eindämmung der Corona-Ausbreitung getroffen hat und die ich für richtig, wenn auch schmerzhaft halte, trifft gerade ältere Menschen, Risikogruppen und jene, die psychische Probleme haben. Gerade diese Menschen brauchen jetzt eine Anlauf- und Austauschstelle, damit die Gedanken nicht Wege gehen, die wir uns alle nicht wünschen. Diese Menschen brauchen ein offenes Ohr, Verständnis und Zuspruch.
Was beunruhigt die Menschen momentan am meisten?
Diane Heckert: Einmal sind es sicherlich bei vielen Menschen pure Existenzängste. Gesundheitliche und wirtschaftliche. Aber auch die Angst vor dem Alleinsein, die Angst vor der Zukunft, all das wieder verlieren zu können, was man sich mühsam aufgebaut hat, oder die Angst vor dem Tod, die sie plötzlich stärker spüren als je zuvor. Eine solche Krise haben die meisten von uns seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt. Wir haben nicht gelernt, mit einer solchen Situation umzugehen. Viele Menschen sind in ihrem Sicherheitsgefühl tief erschüttert. Das erklärt die vielen Hamsterkäufe, Spuckattacken und all diese furchtbaren Erscheinungen, die sich gerade zeigen. Die Menschen sind verunsichert. Viele ältere Menschen sitzen zurzeit allein zu Hause und haben keinen Kontakt mehr zu Kindern und Enkeln.
Wie kann man ihnen helfen, damit sie nicht vereinsamen?
Heckert: Kontakt halten. Damit sich alle auch weiterhin verbunden fühlen können, braucht es oft nur eine kleine Aufmerksamkeit, einen Anruf, eine Postkarte, einen Blumengruß oder das Gespräch durchs offene Fenster. Wichtig ist, noch besser hinzuschauen, was in der Nachbarschaft passiert. Gibt es Konflikte in Familien oder Partnerschaften, die eskalieren und wo eingeschritten werden muss, um Schlimmeres zu verhindern? Oder bemerke ich extremen Rückzug? Auch dann ist Hilfe von Dritten oft dringend notwendig. Wir müssen jetzt gut aufeinander achtgeben und uns unterstützen, damit wir aus dieser Krise als Einzelne und Gesellschaft gestärkt hervorgehen können.
Was raten Sie Menschen, die Angst vor Versorgungsengpässen haben?
Flatt-Heckert: Es gibt keinen Versorgungsengpass. Noch nicht. Außer bei Toilettenpapier. Und ich glaube auch nicht, dass es dazu kommen wird. Am einfachsten ist es wohl, wenn wir alle nur das kaufen, was wir wirklich brauchen und verbrauchen können. Dann reicht es auch für unsere Mitmenschen und wir müssen später nicht so viel Gehortetes wegwerfen. Leere Regale machen Angst und fördern Hamsterkäufe. Das ist ein typisches Angstsymptom. Aber diese Angst ist nicht begründet.
Was können Familien tun, die jetzt sehr viel Zeit zusammen verbringen, damit es nicht zu Konflikten kommt?
Heckert: Wichtig ist, eine neue Tagesstruktur in der Familie zu finden, die allen Sicherheit gibt. Kleinere Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern oder einem Elternteil, um sich zugehörig und verbunden zu fühlen. Ihnen ist aber auch zuzumuten, sich zeitweise allein zu beschäftigen. Eltern brauchen auch Auszeiten, damit sie neue Kraft schöpfen können. Dafür können wir uns aufteilen, wenn beide Elternteile zur Verfügung stehen. Ein Elternteil unternimmt etwas mit den Kindern draußen, damit der andere sich ausruhen kann. Wichtig ist, dass sich alle ihren eigenen Raum nehmen dürfen und wir Rücksicht aufeinander nehmen. Auch Kinder können das üben, wenn wir es ihnen erklären. Jeder sollte sein Bedürfnis äußern können und von den anderen darin ernst genommen werden. Aus diesem achtsamen Umgang ergeben sich dann auch die Lösungen.
Als freier Theologe halten Sie auch Trauerreden bei Beerdigungen. Wie laufen diese zurzeit ab?
Flatt-Heckert: Das ist im Moment sehr schwierig. Trauerfeiern dürfen in unserer Region nur in kleinstem Kreis und draußen stattfinden. Immerhin. In anderen Landkreisen sind Trauerfeiern teilweise ganz untersagt, und die Särge werden nur behördlich ohne Angehörige
beigesetzt. Das ist furchtbar. Unsere Trauergespräche finden zumeist wegen des Kontaktverbots telefonisch statt, was die seelsorgerliche Begleitung und Vorbereitung von Trauerfeiern erst mal sehr unpersönlich erscheinen lässt. Aber auch am Telefon kann man professionell und vertrauensvoll arbeiten. Und die Trauerfeiern werden natürlich mit Musik und einer individuellen Ansprache gefüllt. Wir tun alles dafür, dass ein Abschied auch unter diesen Umständen würdevoll und angemessen ist.
Welche Einschnitte sind aus Ihrer Sicht besonders problematisch, und wie kann man damit umgehen?
Heckert: Dass viele Menschen ihre sterbenden Angehörigen in den Krankenhäusern und Pflegeheimen aufgrund des Betretungsverbots zurzeit nicht besuchen und begleiten dürfen, halte ich für besonders schwierig. Für die Angehörigen und die sterbenden Menschen in gleicher Weise. Aber auch für das Krankenhaus- und Pflegeheimpersonal. Das ist für viele kaum auszuhalten.
Wie denken Sie, wird das Coronavirus die Gesellschaft verändern?
Heckert: Viele Selbstverständlichkeiten bekommen gerade eine ganz neue Bedeutung und Wertschätzung. Wir gehen nach der Krise vermutlich wieder vorsichtiger und bewusster mit unseren Mitmenschen und Ressourcen um. Wir werden uns fragen müssen, wie viel es uns wert ist, eine Gastwirtschaft oder einen Laden um die Ecke zu haben. Wollen wir das nicht verlieren, müssen wir die ortsnahen Betriebe unterstützen. Auch wird gerade deutlich, welche Berufsgruppen wirklich systemrelevant sind. Wir werden uns fragen müssen, wie wir in Zukunft mit ihnen umgehen wollen. Stichwort: Pflegeberufe, Einzelhandel und was sich als besonders wichtig und dennoch als schlecht bezahlt darstellt.
Flatt-Heckert: Es gibt aber noch viele andere positive Effekte. Denken Sie nur an die Solidarität unter den Menschen. IT-Spezialisten helfen Landwirten bei der Spargelernte. Wer hätte das vor der Krise gedacht? Und denken Sie an die Natur, die sich überall da rasend schnell erholt, wo wir sie gerade in Ruhe lassen. Ich bin gespannt, was da noch alles sichtbar wird.