14/10/2021
Absolut informativ!!!
Die „Lieblingsseite“ bzw. der muskuläre Schiefhals – oft übersehen oder verharmlost.
Eine liebe Verwandte hat vor einiger Zeit ein Foto ihres zwei Monate alten Babys an die Familie geschickt – persönlich konnten wir sie noch nicht treffen. Auf dem Bild (nicht dieses hier) fiel mir sofort eine Schädelasymmetrie auf. Meine Nachfrage ergab: Das Baby hat eine Lieblingsseite und damit einen sogenannten Schiefhals, der bereits zu einer Verformung des Kopfes geführt hat. Beides fiel dem Kinderarzt leider nicht auf und wurde daher auch nicht behandelt.
Diese Geschichte ist alles andere als ein Einzelfall. In einer Studie von 2008 [47, s. Literaturliste auf meiner Website] wurde bei jedem 6. Neugeborenen ein Schiefhals festgestellt. Eine aktuellere Studie [48] untersuchte Säuglinge im Alter von 2-6 Monaten: Insgesamt hatten 20% einen Schiefhals, bei den 2 Monate alten Babys sogar jedes zweite. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen: In meinen Rückbildungskursen fällt mir üblicherweise bei 20-50% der Babys eine Vorzugshaltung in verschieden starker Ausprägung auf.
Bei einem muskulären Schiefhals handelt es sich um eine angeborene einseitige Verkürzung und Verspannung eines Halsmuskels, i.d.R. des Musculus sternocleidomastoideus [23, 3], die verschieden stark ausgeprägt sein kann. Sie ist prinzipiell sehr gut physiotherapeutisch behandelbar, doch leider wird sie von Ärzt*innen häufig übersehen oder aber verharmlost mit den Worten „das wächst sich aus“ – während sie in Wirklichkeit oft einfach mit zunehmender Kopfkontrolle schwerer zu erkennen ist. In einer Studie an über 200 Kindern mit asymmetrisch verformten Köpfen [40] gaben 92% der Eltern rückblickend an, ihr Baby hätte nach der Geburt eine Lieblingsseite gehabt, doch nicht einmal 25% der Kinder erhielten eine entsprechende Diagnose oder wurden behandelt.
Auf der anderen Seite höre ich von engagierten Kinderärzt*innen, es gäbe auch immer wieder Eltern, die ihr Kind trotz ärztlicher Verordnung nicht physiotherapeutisch behandeln lassen. Teils fehlt es an der Einsicht, teils an Kinderphysios in der Nähe, teils an den finanziellen Ressourcen, denn nicht überall gibt es Therapeut*innen mit Kassenverträgen und ohne lange Wartezeiten.
Aus all diesen Gründen kommen immer wieder Schiefhalskinder mit teils erheblich deformierten Köpfen viel zu spät zur Physiotherapie. An dieser Stelle sei erwähnt, dass es bei Säuglingen seltener auch nicht-muskuläre Gründe für eine Schiefhaltung des Kopfes gibt. Nach einer älteren Studie [5] beispielsweise liegen bei 18% der Patient*innen andere Ursachen wie Wirbelfehlbildungen oder neurologische Krankheitsbilder zugrunde. Auch Augenprobleme oder gastroösophagealer Reflux können u.U. eine Ursache sein [16, 31]. Bei therapieresistenten Schiefhälsen empfiehlt sich daher eine genauere Abklärung.
Für den hier thematisierten und sehr viel häufigeren muskulären Schiefhals, bei dem der Kopf i.d.R. vermehrt zu einer Seite gedreht und zur anderen geneigt ist [3, 23, 41], zeigt die Studienlage eindeutig: Ein möglichst früher Therapiebeginn ist essentiell und führt zu einer sehr hohen Erfolgsrate. Dass ein Baby eine Seite bevorzugt, ist niemals normal und immer behandlungswürdig. Ein normal entwickelter Säugling bewegt den Kopf in alle Richtungen gleich weit und gerne. Blickt das Kind vermehrt zu einer Seite, kann sich der noch weiche Schädel auf der stärker belasteten Stelle sehr schnell abflachen und so eine asymmetrische Form entwickeln (Plagiocephalus), bis hin zur Gesichts- und Kieferasymmetrie sowie Verschiebung der Ohren.
Die eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule wirkt sich aber auch ohne sichtbar verformten Schädel auf das gesamte Bewegungsverhalten aus. Z.B. zeigt sich mit 4-5 Monaten eine schlechtere Greiffunktion bei Babys mit Schiefhals [48]. In der Praxis sehe ich oft, dass die Kinder die seltener im Blickfeld befindliche Hand vernachlässigen, wodurch sich diese verzögert entwickelt. Auch Stillprobleme sind eine häufige Begleiterscheinung [52, 53]. Mehrere Studien zeigen, dass Schiefhalsbabys deutlich öfter eine Hüftdysplasie haben als der Durchschnitt [3, 20, 23]. Das Vorliegen eines Schiefhalses ist zudem ein Risikofaktor für eine motorische Entwicklungsverzögerung im 1. Lebensjahr [8, 34, 43].
Im Kindergartenalter finden schwedische Forscherinnen [33] keine Unterschiede mehr in der Motorik von Kindern mit und ohne Schiefhalsgeschichte, während israelische Forscher*innen [44] bei ehemaligen Schiefhalsbabys noch im Alter von 7-9 Jahren öfter Entwicklungsauffälligkeiten in den Bereichen Aufmerksamkeit, Konzentration, Koordination, Sprache etc. fanden als bei Kindern ohne diese Vorgeschichte. Hier wird mit Sicherheit noch weiter geforscht werden.
In späteren Jahren ist eine Asymmetrie mit ungeschultem Auge oft schwer zu erkennen, trotzdem existiert sie und kann den ganzen Körper inkl. Haltung und Bewegung beeinflussen [46, 49] – neben dem Nacken auch Gleichgewicht, Koordination, Gesichtssinn etc. Manche Menschen können eine Asymmetrie sehr gut kompensieren, andere weniger gut. Ein unbehandelter Schiefhals kann zu bleibenden Folgen wie Bewegungseinschränkung, Schädel- und Gesichtsasymmetrien, Schmerzen und Operationen führen, und es ist nicht vorhersagbar, bei wem dies der Fall sein wird und bei wem nicht [23]. Er scheint zudem laut neueren Studien ein Risikofaktor für eine spätere Skoliose zu sein [24, 50]. Eine ältere Studie [9] zeigt: Ist die Schiefhaltung des Kopfes nach dem 1. Geburtstag nicht verschwunden, so ist sie auch nach einem durchschnittlichen Untersuchungszeitraum von 19 Jahren (!) noch sichtbar.
Andere Studien erklären den Grund dafür: Bei einem unbehandelten Schiefhals kommt es ab einem Alter von 8 Monaten zu einer zunehmenden Verformung der Halswirbel, die auch im Erwachsenenalter per CT nachweisbar ist und selbst nach einer OP des verkürzten Halsmuskels für eine bleibende Schiefhaltung sorgen kann [17, 18, 2]. Ein unbehandelter Schiefhals wurde zudem als wahrscheinliche Ursache für Gesichtsasymmetrien [42] mit hochgradigen asymmetrischen Zahn- und Kieferfehlstellungen identifiziert [55, 56].
Doch woher kommt so ein Schiefhals eigentlich? Als Ursache wurden lange Zeit Geburtstraumata vermutet, doch immer mehr Studien deuten darauf hin, dass bereits im Mutterleib eine Gewebsveränderung im betroffenen Halsmuskel entsteht und die Geburt nur selten eine Rolle spielt [41, 12]. In einer dänischen Studie [15] hatte die Mehrheit der Schiefhalsbabys eine völlig unkomplizierte Geburt. Andere Forscher*innen fanden heraus, dass es für das Schiefhalsrisiko keine Rolle spielt, ob ein Kind vaginal oder per Kaiserschnitt geboren wird [27]. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen aus der Praxis: Ich frage immer nach dem Geburtsverlauf, und nur selten berichten die Mütter von Komplikationen.
Platzmangel im Mutterleib könnte ein Risikofaktor für die Entstehung eines Schiefhalses sein. Mütter betroffener Babys berichten häufiger, dass sich jene direkt vor der Geburt länger als 6 Wochen in der exakt gleichen Position im Mutterleib befanden [47]. Einige Studien finden ein erhöhtes Schiefhalsrisiko bei Erstgeborenen [3, 7], die weniger Platz zur Verfügung haben als Kinder in Folgeschwangerschaften, wo die mütterlichen Strukturen bereits stärker gedehnt sind. Auch Mehrlingsschwangerschaften führen zu einem erhöhten Risiko [3]. Zudem ist die Beckenendlage mit einem erhöhten Schiefhalsrisiko assoziiert, und zwar unabhängig vom Geburtsmodus [3, 7, 26].
Ein älterer Fallbericht [45] erzählt von einem Baby, das wegen Beckenendlage ohne vorangehende Wehen per Kaiserschnitt entbunden wurde und noch währenddessen mit einem hochgradigen Schiefhals auffiel. Es war wenig Fruchtwasser vorhanden, sodass die Bewegungsfreiheit des Babys u.U. eingeschränkt war. Auch eine weitere Studie [26] zeigt, dass sich Säuglinge mit hochgradiger Schiefhalssymptomatik sehr häufig in Beckenendlage befanden und/oder wenig Fruchtwasser vorhanden war – wobei unklar ist, ob die Babys aufgrund der Position einen Schiefhals entwickeln oder ob sie vielmehr der Schiefhals daran hindert, sich in Schädellage zu begeben.
Doch was ist nun zu tun, wenn ein Baby eine Lieblingsseite hat?
Klar belegt ist durch wissenschaftliche Studien an zahlreichen Kindern auf der ganzen Welt: Abwarten ist keine gute Strategie [3, 6, 9, 10, 11, 14, 19, 22, 23, 25, 32, 35, 36, 38, 41, 51]. Je früher die Therapie beginnt, desto schneller ist sie abgeschlossen. Je später, desto länger dauert sie (wodurch auch die Kosten steigen) und die Erfolgsaussichten sind schlechter.
Die amerikanischen Forscherinnen Sandra Kaplan, Colleen Coulter und Barbara Sargent – allesamt Physiotherapeutinnen mit Doktortitel – veröffentlichten im Jahr 2013 klinische Leitlinien zur Behandlung des angeborenen muskulären Schiefhalses [22] und ergänzten sie 2018 um aktuellere Erkenntnisse [23]. Sie stützen sich dabei auf über 200 Quellen, die sie sorgfältig ausgewählt und nach Qualität und Aussagekraft geordnet haben.
Diese Leitlinien besagen u.a.: Das Umfeld eines Neugeborenen sollte fähig sein, die Symptome eines Schiefhalses zu erkennen und vor dem vollendeten 1. Lebensmonat die Physiotherapie initiieren, denn in diesem Fall erreichen 98% innerhalb von 1,5 Monaten einen annähernd normalen Bewegungsumfang der Halswirbelsäule. Bei Beginn nach dem 1. Monat verlängert sich die Behandlungsdauer auf durchschnittlich 6 Monate. Nach dem 6. Monat steigt sie auf 9-10 Monate, während die Wahrscheinlichkeit sinkt, eine normale Beweglichkeit zu erreichen [38]. Die wenigen Kinder, die mir kurz nach der Geburt zugewiesen wurden, brauchten oft nur 1-3 Behandlungseinheiten, hochgradige Fälle ausgenommen. Viel häufiger beginnt die Therapie aber leider erst mit ca. 4 Monaten, sodass sie entsprechend länger dauert.
Das Fazit der Leitlinien [23] lautet daher: Hebammen/Ärzt*innen/Pflegefachkräfte sollten Neugeborene umgehend an Kinderärzt*innen und -physiotherapeut*innen vermitteln, sobald eine Gesichts-/Schädelasymmetrie, Bevorzugung einer Position, Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule oder einseitige Verdickung der Halsmuskulatur sichtbar wird [23, 41].
Leider sind viele Personen, die beruflich mit Säuglingen zu tun haben, nicht über die Existenz dieser Leitlinien informiert und raten zu spät oder gar nicht zur Behandlung. Nicht selten liegt es daher an den Eltern, ihr Recht darauf mit Entschlossenheit einzufordern. So können häufig nicht nur Folgeschäden wie Kopfdeformitäten verhindert, sondern auch gute Voraussetzungen für die weitere Entwicklung geschaffen werden.
Doch neben der Physiotherapie können Eltern auch im Alltag mithelfen, eine symmetrische Entwicklung zu fördern [1]: Studien zeigen, dass die Häufigkeit von Schiefhals und Plagiocephalus enorm angestiegen ist, seit zur Prävention des plötzlichen Kindstods (SIDS) die Rückenlage zum Schlafen empfohlen wird [4, 21, 30, 37, 41, 54]. Trotz dieser begründeten Empfehlung schlafen aus diversen Gründen nicht alle Babys in Rückenlage – doch die, die es tun, zeigen häufiger einen Schiefhals/eine Plagiozephalie als Bauchschläfer*innen [7, 19, 29]. Für die Bauchlage ist eine maximale Kopfdrehung erforderlich, sodass sich eine eventuelle Verkürzung des betroffenen Halsmuskels durch die Dehnung rascher wieder auflöst.
Das Abraten von der Bauchlage als Schlafposition wird von Eltern häufig als generelles Abraten von der Bauchlage fehlinterpretiert [54]. Dabei ist es gerade durch die empfohlene Rückenlage zum Schlafen umso wichtiger, Babys im Wachzustand in verschiedenste Positionen zu bringen, vor allem in die Bauchlage, und die Zeit in Rückenlage zu reduzieren [1, 6, 13, 36, 39, 41, 54]. Auch einseitiges Füttern bei Flaschenkindern ist ein Faktor, der häufiger in Verbindung mit einem Schiefhals steht [7, 23]. Generell empfiehlt es sich, im Alltag mit dem Baby darauf zu achten, dass Reize von beiden Seiten kommen [1, 28, 41] – ob das nun die Stimme der Eltern ist, eine interessante Aussicht, oder ob es um die Vermeidung von Einseitigkeit beim Hochheben, Tragen, Füttern oder Schlafen geht.
Die Eltern des eingangs erwähnten Babys setzten diese Tipps um, ließen es physiotherapeutisch behandeln und inzwischen entwickelt es sich völlig unauffällig :)
Ich freue mich sehr, wenn ihr meinen Artikel teilt und kommentiert, damit in Zukunft mehr Schiefhalsbabys von Anfang an optimal versorgt werden! ❤️
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Text: ©2021, Kathrin Mattes. Teilen erwünscht, Kopieren (auch auszugsweise) nicht erlaubt. Es gilt das Urheberrecht.
Bild: Shutterstock.
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