07/03/2022
"Er ist so schief, dass er nahezu lahmt!"
Diese Aussage hören wir häufiger. Ist das aber möglich? Dass ein Pferd "sehr schief" ist und deswegen unsauber läuft? Ergo: Gymnastiziert und "gerade gerichtet" gehört statt dem Tierarzt vorgestellt?
Aus unserer Sicht wird vor allem umgekehrt ein Schuh draus: Ist ein Pferd geringgradig lahm, und das schon über einen längeren Zeitraum, wird es immer schiefer. Es wird das betroffene Bein/den betroffenen Bereich schonen. Meist gleicht es etwa die Schwäche eines Hinterbeins mit dem anderen Hinterbein oder dem gegenüberliegenden Vorderbein aus: Es leistet zum Beispiel vorn rechts mehr Stemmarbeit, um eine Schwäche oder einen gewissen Schmerz hinten links auszugleichen. Stemmarbeit wird vorwiegend mit dem breiten Rückenmuskel (M.latissimus dorsi) verrichtet. Dessen Ursprungsort ist die Rücken-Lenden-Binde, eine gewaltige fasziale Struktur, die sich bis zum Darmbein erstreckt. Durch den einseitigen Hypertonus des Latissimus wird die rechte Beckenhälfte auch in Ruhe etwas weiter vorn stehen, das Pferd kann rechts hohl wirken.
Schiebt das linke Hinterbein aber dauerhaft nicht (was besonders in Rechtsvolten auffällt), sondern tritt kurz, weil das Pferd die hintere Stützbeinphase vermeidet, wirkt das Pferd reiterlich gesehen links hohl: Es tritt nicht an den linken Zügel heran, es driftet vielleicht auf der linken Hand nach außen und auf der rechten nach innen.
Je schiefer ein Pferd ist, je unterschiedlicher es bemuskelt ist und je weniger sich die Schiefesituation durch Training ändert, desto schneller sollte man in die Diagnostik gehen und eben nicht noch jahrelang in immer denselben Seitengängen "die Schiefe" bearbeiten. Wenn die Schiefe durch Training zu verbessern ist, geht das relativ schnell: binnen 8 bis 12 Wochen sollte eine Verbesserung eintreten, sonst trainiert man entweder falsch, nicht effizient oder das Pferd hat ein anderes Problem!
Letzteres entdecken wir in letzter Zeit häufiger.
Beispiel? Ein 11jähriger Warmblutwallach, sehr gut geritten (auch regelmäßig gymnastizierend inkl. Seitengängen etc.) zeigt einen ausgeprägten Beckenschiefstand, muskelt hinten links nicht auf und versucht; alles was mit Rechtsbiegung zu tun hat, zu vermeiden. Mit geschultem Auge erkennt man eine geringgradige Stützbeinlahmheit hinten links. Schließlich lahmt das Pferd vorn rechts (was meist Folge jahrelanger Überbelastung durch ein schwaches gegenüberliegendes Hinterbein ist).
Auf ausdrücklichen Wunsch der Besitzerin wird auch hinten links geröntgt. Entdeckt wird ein Chip im Sprunggelenk, der seit Jahren Ärger macht.
Noch ein Beispiel?
Ein Wallach leidet, nachdem er jahrelang beobachtbar "auf die rechte Schulter fällt" an einem Sehnenschaden vorn rechts, der nicht recht ausheilt. Hinten links läuft aber auch unklar und außerdem ist ein Überbein zu sehen. Eine Tierärztin hatte es als unbedenklich eingestuft. Als wir es doch röntgen lassen, entdeckt unsere Tierärztin einen alten, nicht ausgeheilten Griffelbeinbruch...
Gegen den hätte man nicht antrainieren können. Auch gegen den Chip nicht - egal wie gut die Renverspirouetten gelingen.
Fazit:
Sehr schiefe Pferde sind häufig dezent lahme Pferde. Natürlich werden die Pferde aus unserem Beispiel beim Antrainieren schief sein - wenn das Grundproblem weg ist, werden sie aber durch Training auch wieder sichtlich gerader!
Es ist normal, dass einem Pferd auf der einen Hand einige Dinge etwas leichter fallen als auf der anderen. Es ist aber keinesfalls normal, dass ein Pferd über Jahre exakt gleich schief bleibt. Dann ist das Training nicht gut oder das Pferd hat ein körperliches Problem!
Foto: Beispielbild Röntgen (keines der genannten Pferde)