12/08/2023
Full House Friday…oder warum man nie denken sollte, dass jetzt etwas schnell geht…
Freitag Morgen, 7 Uhr, ich sitze gerade vor meinem ersten Kaffee, da klingelt mein Telefon. Festliegende Kuh mit Milchfieber. „Na super, nix gemütlicher Morgenkaffee“, denke ich mir, schnappe meine Autoschlüssel und düse los gen Samerberg. Bei dem Landwirt angekommen, liegt die frisch gekalbe Kuh völlig platt in Seitenlage und schaut mehr tot als lebendig aus. Die Ursache für Milchfieber ist ein Kalziummangel im Blut. Die Milchkuh muss ihren Stoffwechsel am Ende der Trockenstehzeit abrupt umstellen von einer Ruhe- in eine Hochleistungsphase. Mit dem Einschießen der Milch ändert sich auch der Bedarf an Kalzium. Dafür muss die Kuh den Mineralstoff aus allen erreichbaren Quellen heranziehen, aus dem Futter und aus körpereigenen Reserven, z. B. aus den Knochen. Kann die Kuh ihren Stoffwechsel nicht schnell genug umstellen, sinkt der Gehalt an Kalzium im Blut ab. Als Folge dieses Kalziummangels versagt zügig jede Muskelbewegung, da hierfür Kalzium ein essentieller Mineralstoff ist. Die Kuh bekommt kalte Ohren, Untertemperatur, stellt das Fressen ein, wird wackelig auf den Beinen, kann dann nicht mehr Aufstehen und irgendwann würden auch Atem- und Herzmuskulatur versagen. Definitiv eine Notfallsituation. Ich verpasse nun der Kuh eine größere Kalziuminfusion. Dabei muss man immer ein wenig vorsichtig sein, da die Kuh bei einem zu schnellen Tempo oder einer zu großen Menge ein Kammerflattern des Herzmuskels bekommen würde und man dann unter Umständen ganz schnell eine tote Kuh haben würde. Und einen Defibrillator für Kühe gibt es leider nicht. Gibt man der Kuh aber zu wenig Kalzium, dann steht sie nicht wieder auf. Ein gewisser Behandlungszwiespalt… Ich bin bei meiner großen, sehr schweren Patientin nun mit der Infusion fertig. Sie liegt zwar immer noch in Seitenlage, ein starkes Muskelzittern zeigt mir aber, dass das Kalzium definitiv bei ihr angekommen ist. Mit Hilfe der Landwirtin und ihrem Sohn richten wir die Kuh nun mit einigen Ziehen und Zerren auf in die Brustlage. Kaum rollt die haarige Dame herum, springt sie noch leicht wackelig auf und fängt an zu fressen. Genau in dem Moment kommt der Landwirt dazu und fragt völlig fassungslos, wie wir die Kuh denn jetzt so schnell zum Stehen bekommen hätten. Er habe den halben Morgen versucht, sie aus der unmöglichen Seitenlage aufzurichten und man hätte die 700kg Kuh nicht einen cm bewegen können. Ich bewege grinsend meinen kleinen Finger: „Das war der magische kleine Tierarztfinger. Einmal kurz auflegen und schon ist so ne Kuh wieder fit.“ Der Bauer muss herzlich lachen und ich steige ins Auto, um noch halbwegs pünktlich mit der morgendlichen Kleintiersprechstunde zu beginnen. Doch schon wieder klingelt mein Telefon. Die nächste festliegende Kuh, dieses Mal 2 Tage vor Abkalbetermin. Ich bespreche kurz mit meinen Tierarzthelferinnen, dass sie versuchen sollen, die ersten Kleintiertermine nach hinten rauszuschieben und düse weiter gen Rohrdorf. Dort liegt die Kuh zwar noch in Brustlage, hat aber die typisch kalten Ohren, reagiert nur verzögert und kann nicht mehr stehen. Da die Kuh noch nicht gekalbt hat, untersuche ich sie sicherheitshalber noch gynäkologisch, ob auch sonst alles o.k. ist. Leider ist nichts o.k.! Die Kuh hat eine Gebärmutterverdrehung um fast 360 Grad. Man muss sich das so vorstellen, wie wenn man sich einen Pulloverärmel nimmt und diesen einmal fast ganz um die eigene Achse herumdreht. Da ist dann ein Durchkommen fürs Kalb nicht mehr möglich, weil „der Ausgang“ quasi abgedreht ist. Blöderweise liegt die Kuh mitten im Stall in einer engen Liegebox. Ich sage zum Kunden: „Stefan, jetzt haben wir ein Problem. Falls wir die festliegende Kuh nicht zum Stehen bekommen sollten, dann kann ich diese massive Verdrehung im Liegen nicht ausdrehen. Das wird nicht funktionieren. Dann müssen wir die Kuh irgendwie auf den Gang ziehen und die Brettwälzmethode anwenden.“ Dabei würde man die Kuh in Seitenlage legen, die Gebärmutter mit einem Brett auf dem Bauch, auf dem ein Mensch zur Beschwerung steht, fixieren und dann die Kuh um die Gebärmutter drehen. Stefan ist völlig entsetzt, weil er genau weiß, dass das dann eine mega ätzende Superaktion wird, bei der man mindestens 3-4 Leute zur Hilfe benötigt und die bei einer 700kg schweren Kuh auch nicht ganz ungefährlich ist. „Das machen wir auf gar keinen Fall!“, grummelt er vor sich hin, „Bevor wir das machen, lass ich sie lieber notschlachten. Wer weiß, ob das Kalb überhaupt noch lebt, sie war gestern Abend auch schon irgendwie komisch.“ Hm. Na toll. Dann haben wir jetzt vielleicht auch noch eine übergangene Geburt und der Muttermund schließt sich wieder. „Stefan, ruhig bleiben. Jetzt geben wir ihr erstmal eine Kalziuminfusion und vielleicht steht sie dann ja gleich auf.“ So recht glauben, kann ich das aber selber nicht, weil die meisten festliegenden Kühe einige Stunden brauchen, bis sie wieder stehen können. Aber vielleicht klappt’s ja auch nochmal so schnell wie bei der ersten Kuh. Gesagt, getan. Und erstaunlicherweise steht die Kuh wirklich kurze Zeit später seelenruhig fressend im Stall. Ich freue mich riesig und bereite alles zur Geburt vor, weil ich jetzt denke, dass man die Gebärmutterverdrehung bestimmt schnell entdreht bekommt und alles gut ist. Sicherheitshalber informierende ich nochmal meine Tierarzthelferinnen, dass ich vermutlich viiiiiiel zu spät in die Sprechstunde kommen werde und sie die Kleintierbesitzer irgendwie mit Cappuccino und Co bei Laune halten sollen. Ein Notfall geht nunmal vor. Aber man soll halt nie denken, dass irgendetwas schnell gehen könnte. Ich schaffe es gerade so, durch die Drehstelle die Füße des Kalbes zu erreichen. Ich kann Fußstricke platzieren und versuche nun mit Hilfe des Landwirtes und eines Nachbarn, die die Füße nun überkreuz zur Seite ziehen, das Kalb mit der Gebärmutter zu entdrehen. Ich schaffe mit viel Mühe knapp 180 Grad, aber für den letzten Schwung bekomme ich den Kopf des Kalbes einfach nicht auf die andere Seite. Es liegt wie einzementiert in der Kuh. Ich versuche es wieder und wieder, so langsam bin ich schweißgebadet. Aber selbst mit Hilfe eines i.v. gespritzten Weitungsmittels bekomme ich den Kopf einfach nicht rum. Irgendwann sage ich vor Schweiß nur so triefend zum Bauern: „Stefan, wasch Dir mal gründlich die Arme und dann fasst Du genau an meinem Arm entlang bis zum Kopf des Kalbes. Wenn Du den jetzt fühlst, dann mach mal mit aller Kraft diese Bewegung und versuche ihn nach links zu schieben. Du hast bestimmt mehr Kraft als ich und vielleicht schaffst Du das ja. Sonst müssen wir die Kuh doch wälzen. Denn das Kalb lebt definitiv noch.“ Stefan findet sich gut zurecht und bemüht sich mit aller Kraft. Ihm laufen die Schweißperlen nur so die Stirn herunter. Doch auch er schafft es nicht. Ich übernehme nochmal, schiebe die Füße des Kalbes nach halber Entdrehung nochmal zurück, um mehr Platz an der Drehstelle zu gewinnen und leite den Landwirt jetzt nochmal mit seinem Arm zum Kopf. „Stefan, letzter Versuch. Du drückst nochmal mit aller Kraft, die Du hast, den Kopf nach links und ich erzeuge mit den Füßen innen einen zusätzlichen Seitendrall.“ Wir geben wirklich alles und plötzlich macht es „schwupps“ und das Kalb dreht um. Yess!!! Der Rest der Geburt ist dann zwar nochmal mühselig, da der Muttermund nicht sehr schön geweitet und das Kalb riesengroß ist, aber im Vergleich zur Verdrehung ein Kinderspiel. Nach dieser anstrengenden 2h-Aktion haben wir jetzt ein super fittes Kalb und eine erleichterte Mutterkuh. Komplett klatschnass geschwitzt und mehr als duschreif düse ich nun zurück gen Praxis. Dort wartet schon die Kleintiersprechstunde und viele weitere Großtierpatienten. Also leider nur schneller Klamottenwechsel; kann ja jetzt schlecht als Mrs. Wet-T-Shirt weiterarbeiten und weiter geht’s. 12h später freue ich mich, das Diensttelefon für diese Nacht auf meinen Kollegen umzustellen. Denn wer weiß, was mein langes Dienstwochenende ab Morgen früh noch so alles bringen wird.