Viele stehen dann mit ihrem Leid allein, suchen Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe. Oder gründen selbst eine.
»Ich dachte, mir schwindet der Boden unter den Füßen.« Frank von der Heyde wird zwei Tage vor Heiligabend 2016 nach einer MRT- Untersuchung mit der unfassbaren Mitteilung konfrontiert: Hirntumor.
Dabei hat er noch Glück, sagt er. Schon am 27. Dezember bekommt der 61-Jährige einen Termin in der Neurochirurgie in
Frankfurt, im März 2017 erfolgt die Operation, anschließend eine dreiwöchige Reha.
Von der Heyde hat 18 Jahre lang Rettungspersonal ausgebildet, ist somit vertraut mit Unglücken und möglichen Komplikationen. »Ich habe richtig Angst gehabt«, schildert der Butzbacher die damalige Situation.
Keine Erinnerung an Diagnose
Am Tag der Diagnose hätten seine Frau und er sich fast den ganzen Tag in den Armen gelegen und geweint. Aber für ihn ist klar: »Das Ding muss raus!«
Bei Inge S. aus Wieseck war es anders. Sie hatte zunächst überhaupt keine Beschwerden. »Wir waren im Supermarkt einkaufen. Und dann hab ich Sachen in den Wagen gelegt, die wir gar nicht kaufen. Mein Mann dachte, ich hätte einen Schlaganfall.« Sie könne sich aber an nichts erinnern, auch nicht an die Diagnose und die Operation im Oktober 2014 in der Gießener Neurochirurgie. Erst danach habe sie von ihrem schnell wachsenden Hirntumor erfahren.
Keine Anschlussheilbehandlung
Im Gegensatz zu dem noch im Arbeitsleben stehenden von der Heyde, dessen Reha die Rentenversicherung übernahm, bewilligte die Krankenkasse der 82-jährigen Rentnerin keine Anschlussheilbehandlung.
Alia Schilling aus Fronhausen erlebte die schlimme Diagnose und ihre Folgen als Angehörige. Ihr damaliger Lebensgefährte und späterer Mann brach 2011 nach einer Urlaubsreise auf dem Pariser Flughafen mit einem epileptischen Anfall zusammen. Anaplastisches Astrozytom, stellten die Ärzte fest. Ein Hirntumor von der Größe einer Orange.
Man möchte das zunächst nicht glauben, sagt Schilling. »Doch die Narbe und die OP, die Arztberichte und die Reha waren zu real. Uns blieb nichts weiter übrig, als die Diagnose anzunehmen.«
Nach Operation zunächst Besserung
Ihrem Mann ging es nach der OP zunächst besser. »Wir wollten, dass alles wieder heilt. So hatten wir 2011 empfunden und jedes Jahr im Januar seinen Tumortag gefeiert.« Als der Tumor 2014 zurückkehrte, brach für die beiden eine Welt zusammen.
Eine weitere OP war ebenso ein Risiko wie ein nicht operierter Tumor. »Wir entschieden uns, rational vorzugehen, planten einen Urlaub und danach die Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung«, berichtet die 39-Jährige aus Fronhausen.
ICH ERKANNTE, DASS DER TUMOR LANGSAM GEWANN.
Doch der Zustand ihres Mannes, der noch seine Doktorarbeit fertigstellen konnte, verschlimmerte sich zusehends. Vier weitere OP folgten. »Ich erkannte, dass der Tumor langsam gewann.« Kurz vor seinem Tod holten die beiden die kirchliche Trauung als Abschiedsfeier nach. Im September 2016 starb ihr Mann.
In dieser schweren Zeit fand die Lehrerin Halt in den klaren Anweisungen, die ihr Mann in der Patientenverfügung gegeben hatte, in ihrer gemeinsamen Tochter, am Arbeitsplatz an ihrer Schule und nicht zuletzt im Freundeskreis.
Doch bei all dieser Unterstützung fehlte etwas: der Austausch mit Menschen, die das gleiche Schicksal teilten – als Patienten oder Angehörige. Weit und breit gab es keine Selbsthilfegruppe für Hirntumorgeschädigte. Eine Freundin, die auch Kontakt zu von der Heyde hatte, brachte sie auf die Idee, eine Gruppe zu gründen.
Überwältigender Zuspruch
»Wir waren überwältigt, der Zuspruch zu unserem ersten Treffen war immens. Vor lauter Teilnehmern gingen meiner Praxis die Stühle aus«, erzählt die heutige Heilpraktikerin für Psychotherapie, die nach einer entsprechenden Ausbildung eine Praxis für Trauer- und Sterbebegleitung im Fronhausener Ortsteil Bellnhausen betreibt.
Den Eröffnungsvortrag hielt Frank von der Heyde zum Thema Patientenverfügung »Danach war ich total fertig«, beschreibt der Butzbacher die hohe Anforderung an die Konzentration. Die Nachwirkungen der Tumoroperation haben ihn letztendlich berufsunfähig gemacht.
Stramme Wanderungen
Auch für Inge S. hat sich vieles geändert. »Ich konnte am dritten Tag nach der Operation wieder sprechen. Aber körperlich kann ich nicht mehr so wie früher«, sagt die eigentlich noch sehr rüstige 82- Jährige. Deshalb lebe sie auch sehr zurückgezogen, unterstützt durch eine Putzhilfe. Aber auch ihr hilft der Austausch in der Selbsthilfegruppe.
Von der Heyde machte einige neue Erfahrungen. Er sei nie ein Supersportler gewesen. Aber er habe mit seiner Frau angefangen, stramm spazieren zu gehen. »Nach der Reha hab ich immer mal wieder geschlurft. Durch das Singen von Wanderliedern im Geiste habe ich wieder zu einem normalen Schrittrhythmus gefunden.« Auch eine Art der Selbsthilfe.
DAS LEBEN IST WERTVOLLER. DIE DANKBARKEIT, LEBEN ZU KÖNNEN, IST VIEL GRÖSSER ALS VORHER. DA WAR MAN JUNG UND UNSTERBLICH.
Vor einem Jahr nahm von der Heyde bei Jörg Bombachs »Hessen- Quiz« im HR-Fernsehen teil – und gewann. Belohnung für den früheren IT-Spezialisten: eine Reise auf die tunesische Insel Djerba. Im Reisegepäck auch seine Diagnose in Französisch, Englisch und Deutsch. Für den Fall der Fälle.
Nach einem solch einschneidenden Erlebnis sehe man die Welt anders. Vieles früher Wichtige verliere an Bedeutung, sagt Schilling. »Das Leben ist wertvoller. Die Dankbarkeit, leben zu können, ist viel größer als vorher. Da war man jung und unsterblich.«
INFO
(rüg). Rund 8000 Menschen erkranken nach Angaben der
Deutschen Krebshilfe jährlich an einem Gehirntumor. »Ein
Hirntumor ist etwas sehr Spezielles, denn er ist in der
Schaltzentrale des Menschen gelegen«, sagt Alia Schilling, die
im Januar eine Hirntumor-Selbsthilfegruppe gründete. Ihr
gehören mittlerweile rund 30 Mitglieder an, die aus dem
gesamten mittelhessischen Raum zwischen Butzbach,
Marburg, Wetzlar und Herborn kommen. Die Gruppe trifft sich
an jedem ersten Freitag im Monat in einem Raum der
Chrischona-Gemeinde in Fronhausen (Landkreis Marburg-
Biedenkopf. Das nächste Treffen ist am 1. März; geplant ist ein
Vortrag von Psychotherapeutin Annekatrein Menges-Beutel
von der Anneliese-Polhl-Krebsberatungsstelle in Marbur