26/07/2025
In den vergangenen Wochen habt ihr mir in der Praxis den bunten Blumenstrauß an Kompensationsmustern präsentiert. Gesellschaftlich mehr oder weniger anerkannt, teilweise tabuisiert, aber immer zutiefst schlau vom System.
Kompensationsmuster lassen uns das, was wir noch nicht fühlen mögen, aushalten. Sie lassen uns in unserer Welt weiter funktionieren, ohne dass wir durchdrehen.
Die Gesellschaft applaudiert, wenn ein Mann den fünften Marathon in diesem Jahr absolviert. Dass seine Achillessehnen so entzündet sind, dass sie zumindest auf einer Seite aussehen wie ein Schlauchboot, ist für die Menschen nicht sichtbar. Dass er keine Zeit hat, mit seinem kleinen Sohn zu spielen, weil er jede freie Minute ins Training stecken „muss“, macht ihn traurig, aber er hat „keine Wahl“.
Eine Frau mittleren Alters wird immer kräftiger. Sie leidet an ihrem Gewicht, mag sich selbst nicht mehr. Sie isst zum Trost. So hat sie es schon als Kind getan. „Das Essen ist das Einzige im Leben“, sagt sie, „worauf ich mich verlassen kann.“ Die Gesellschaft blickt spöttisch auf sie. Eine Frau, die offensichtlich die Kontrolle über ihren Körper verloren hat – selbst ihre Mutter konnte sich den Kommentar zur Gewichtszunahme nicht verkneifen.
Ob die „Droge“ das Essen, Amphetamine, Rauchen oder Alkohol ist, spielt keine Rolle. Die Mechanismen sind nur mehr oder weniger offensichtlich und anerkannt.
Ein Mädchen holt sich das letzte bisschen Kontrolle in ihr Leben zurück: Sie hält Stuhl ein. Sie entscheidet, ob und wann sie loslässt. Sie hat Schmerzen, wird von Arzt zu Arzt gebracht, manchmal passiert ihr ein kleines Malheur. Das Symptom läuft unter „funktioneller Obstipation“ und ist als Kompensationsmuster wenig bekannt, weil tabuisiert.
Sucht kommt von Suchen. Wir suchen nach Alternativen, wenn etwas in uns noch nicht bereit ist, der vollen Wucht einer Wahrheit zu begegnen. Doch sie verliert ihre Funktion, sobald wir beginnen, der Realität Stück für Stück ins Auge zu sehen. Heilung beginnt dort, wo wir das, was wir einst vermeiden mussten, heute fühlen dürfen.
Osteopathie und psychosensible Körperarbeit können dabei helfen, das Dahinterliegende langsam zu verdauen.
Deine Osteopathin
Birgit Reiter