16/11/2025
Vergebung
Es kamen mehrere liebe Anfragen, ob ich nicht etwas über Vergebung schreiben könnte.
Ich habe sie gelesen, nachgespürt, und dann – wie es oft geschieht – war die Nacht mein Lehrer.
Wieder einmal wachte ich um 3:15 Uhr auf. Diese Stunde, in der die Welt noch schläft, in der die Stimmen des Tages verstummen und die Wahrheit klarer spricht. Ich blieb einen Moment liegen, lauschte dem Rhythmus meines Atems, spürte die Dunkelheit um mich herum – und wusste: Das ist ein guter Zeitpunkt für die richtigen Worte:
" Die Älteste saß am Feuer, ihre Gestalt kaum mehr als ein Schatten in der flackernden Glut. Die Nacht war still, nur der Wind zog leise durch das trockene Gras, als wollte er lauschen. Um sie herum saßen jene, die gekommen waren, um zu hören, um zu verstehen – um einen Weg zu finden aus dem, was sie gefangen hielt.
Eine junge Frau hob den Kopf. Ihr Blick war fest, doch in den Tiefen ihrer Augen lag das Echo eines Schmerzes, der nicht vergehen wollte. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie fragte:
„Wie?“
Nicht: Warum. Nicht: Muss ich?
Sondern Wie?
Wie vergibt man?
Wie lässt man los, wenn die Vergangenheit sich in die Haut gegraben hat wie eine alte Narbe?
Wenn das Herz sich weigert zu öffnen, aus Angst, erneut zu brechen?
Die Älteste neigte den Kopf, als würde sie in ihren Worten etwas erkennen, das sie selbst einst gefragt hatte. Dann hob sie die Hand, ließ den Blick über den Kreis gleiten und sprach:
„Vergebung ist kein einzelner Schritt. Sie ist kein Wort, das du sagst und dann für immer getan ist. Sie ist ein Weg, und er führt durch das, was du am meisten fürchtest.“
Die Stille legte sich um die Runde wie ein dunkler Mantel.
„Manchmal beginnt dieser Weg, wenn die Wunde noch offen ist, wenn du jede Faser deines Wesens darum kämpfen spürst, sich zu verschließen, um nicht wieder verletzt zu werden. Wenn der Körper noch die Erinnerung trägt, als wäre sie gestern geschehen. Wenn die Seele in der Stille immer wieder flüstert:
‚Ich kann nicht. Noch nicht. Vielleicht nie.‘“
Ein Funke sprang aus dem Feuer, stieg auf und verglomm in der Weite der Nacht.
„Und doch gibt es einen Punkt,“ fuhr sie fort, „an dem die Last schwerer wird als die Wunde selbst. Einen Punkt, an dem du spürst, dass es nicht mehr das Vergangene ist, das dich quält, sondern dein Festhalten daran.
„Dann beginnt Vergebung. Nicht als ein plötzlicher Entschluss, oder als eine große, heroische htoßzügige Geste. Sondern als ein vorsichtiges Sich-Öffnen.“
Sie nahm einen Zweig und zeichnete Kreise in die Erde.
„Doch lasst mich euch sagen, was Vergebung nicht ist.“
Ihr Blick ruhte auf den Gesichtern derer, die zuhörten.
„Vergebung bedeutet nicht, dass du das Unrecht gutheißt.
Sie bedeutet nicht, dass du klein beigibst oder vergisst.
Sie bedeutet nicht, dass du schweigst oder dich beugst.
Vergebung bedeutet, dass du dich selbst nicht länger im Schatten dessen hältst, was war.
Dass du deine Freiheit höher stellst als den Schmerz.“
Ein leiser Wind strich durch das Gras. Jemand bewegte sich unruhig.
„Aber was, wenn es keine Wiedergutmachung gibt?“ fragte eine Stimme aus dem Dunkeln.
Die Älteste nickte.
„Manchmal bedeutet Vergebung, dass du akzeptierst, dass es keine Gerechtigkeit geben wird.
Dass kein Wort, keine Tat das Geschehene ungeschehen machen kann.
Dass du die Hoffnung darauf loslassen musst.
Und doch gibt es einen Moment, der alles verändert.
Den Moment, in dem deine Seele begreift:
‚Ich bin mehr als diese Wunde.‘
Den Moment, in dem du spürst, dass du den Schmerz nicht länger mit dir tragen musst. Dass du das unsichtbare Seil durchtrennen kannst, das dich an die Vergangenheit fesselt. Und dass in dieser Loslösung keine Niederlage liegt – sondern deine größte Freiheit.
Ihre Stimme war ruhig, aber in ihr lag eine Kraft, die bis in die Knochen ging.
„Vielleicht beginnt Vergebung genau dort, wo du dein eigenes Herz sanft in die Hände nimmst und flüsterst:
‚Es ist genug. Ich wähle mich. Ich wähle das Leben.‘
Und dann, langsam, heilt etwas, das unheilbar schien. Und aus der Narbe wird nicht nur eine Erinnerung – sondern ein Tor. Ein Tor, durch das Licht fällt.“
Sie schwieg für einen Moment, ließ ihre Worte sinken wie Samen in fruchtbare Erde. Dann fuhr sie fort.
„Vergebung ist ein Prozess. Ein sanftes, manchmal schmerzhaftes Lösen der Knoten, die sich um deine Seele gelegt haben.“
Ein junger Mann hob den Kopf.
„Aber was, wenn ich nicht weiß, wo ich anfangen soll?“
Die Älteste lächelte leise.
„Es gibt Wege dorthin. Vielleicht nicht sofort. Aber Schritt für Schritt.“
Sie hob eine Hand und zählte mit den Fingern.
Erkenne deinen Schmerz an. - Vergebung beginnt nicht mit Nachsicht, sondern mit Ehrlichkeit. Mit dem Mut, hinzusehen, wo es wehtut. Ohne das Eingeständnis des Schmerzes bleibt Vergebung eine Hülle ohne Halt.
Erkenne die Illusion der Kontrolle - Wir halten an Wut und Schmerz fest, weil wir glauben, dass sie uns schützen. Aber das tun sie nicht. Sie halten uns nur fest.
Lasse den Wunsch nach Wiedergutmachung los. - Vielleicht wartest du darauf, dass der andere bereut. Dass er sagt: ‚Es tut mir leid.‘ Aber was, wenn das nie geschieht? Dann bleibt nur eine Wahl: Dich selbst aus der Kette zu befreien.
Werde Zeuge deiner eigenen Geschichte. - Vergebung ist nicht nur ein Loslassen – sie ist eine Rückkehr zu dir selbst. Dein Schmerz hat dich verändert. Aber er muss nicht bestimmen, wer du wirst.
Wähle den Frieden – immer wieder. - Vergebung geschieht nicht über Nacht. Sie ist eine Entscheidung, die du triffst – und oft wiederholen musst. Und irgendwann spürst du, dass auch deine Emotionen friedlich sind. Sie brauchen länger als der Wille zur Vergebung. Aber irgendwann ziehen sie nach.
Finde ein Ritual des Loslassens. - Schreibe einen Brief und übergib ihn dem Feuer. Flüstere deinen Schmerz in einen Stein und wirf ihn ins Wasser. Atme tief ein und sage: ‚Ich gebe es frei.‘ Denn Vergebung ist nicht nur ein Gedanke – sie will gefühlt werden.
Dann fiel Stille über die Runde.
Die Älteste ließ den Schlüssel einen Moment in ihrer Hand ruhen, als würde sie selbst sein Gewicht prüfen.
Dann blickte sie auf, sah in die Augen derer, die gekommen waren, um zu verstehen.
„Vergebung ist keine Tür, die sich mit einem einzigen Schritt öffnet. Sie ist eine Schwelle. Ein Übergang. Und jeder geht ihn in seiner eigenen Zeit.“
Sie neigte den Kopf, ließ ihre Stimme sanft in die Nacht sinken.
„Aber eines Tages… wirst du spüren, dass etwas anders ist. Dass die Vergangenheit nicht mehr an dir zerrt. Dass dein Herz nicht länger in den alten Geschichten gefangen ist. Dann wirst du wissen: Du hast die Tür geöffnet.“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, kaum mehr als ein Hauch.
„Und wenn du hindurchgehst… wirst du nicht mehr die sein, die zurückblickt. Sondern die, die nach vorne tritt.“
Mit einer sanften Bewegung ließ sie den Schlüssel in die Erde gleiten, zwischen Feuer und Schatten, zwischen dem, was war, und dem, was noch kommt.
Dann hob der Wind ihn auf – und trug ihn fort in die Nacht."
Ich wünsche euch einen wunderschönen Sonntag
Eure Sonia Emilia Rainbow
Foto: Nikole Krischak