03/12/2021
B!
Zum heutigen Internationalen Tag der Menschen mit unser Text zur Löffeltheorie aus dem Studiplaner "mehr plan für alle".
Von Löffeln und Inklusion.
Stell Dir vor, du wachst auf und hast 30 Löffel zur Verfügung. Diese Löffel sind Aktivitäten, die du in deinem Alltag machen kannst. Das sind bspw. Aufstehen, Zähneputzen oder Einkaufen, aber auch die Teilnahme an einer Vorlesung, 25 Minuten konzentriertes Arbeiten oder das Lesen eines wissenschaftlichen Textes.
Stell dir vor, du verbrauchst pro Aktivität nicht nur einen Löffel, sondern drei.
Stell Dir vor, du hast täglich Schmerzen, Angstzustände oder bist schnell reizüberflutet. Zusätzlich nimmst du vielleicht Medikamente ein, hast Therapien und Termine, die weitere Löffel kosten.
Stell Dir vor, du wachst auf und hast keine 30 Löffel, sondern nur noch 15, vielleicht weil der vergangene Tag wieder mal sehr kräftezehrend war.
Dieses gedankliche Bild der Löffel, die sog. „Löffeltheorie“ der selbst betroffenen Christine Miserandino erzählt vom Alltag behinderter und chronisch kranker Personen. Mit Blick auf ein Studium sieht das ganze dann noch wesentlich trister aus und das, obwohl Inklusion und Chancengleichheit als Grundprinzipien postuliert werden.
So existiert zwar bspw. ein Recht auf Nachteilsausgleich für chronisch kranke und behinderte Studierende, doch bleibt dieses durchaus wichtige Instrument zur Herstellung von Chancengleichheit in der derzeitigen Form fraglich, wenn die Beantragung nicht nur jeweils individuell geschieht und aktuelle ärztliche Atteste verlangt (Löffel!), sondern oftmals eine langwierige Kommunikation mit Prüfungsausschüssen und die Preisgabe sehr persönlicher Details bedeuten (noch mehr Löffel!), die sich durchaus zur zermürbenden Verhandlungssache um die Ressourcen des Institutes entwickeln kann (richtig viele Löffel!). Ganz zu Schweigen vom Unverständnis der Kommiliton_innen, die darin eine Sonderbehandlung oder gar einen Vorteil sehen wollen (insbesondere bei nicht-sichtbaren Erkrankungen). Dann überlegst du dir als betroffene Person wohl eher dreimal, ob du diesen Antrag - für jedes Modul extra - stellst .
Wie viele weitere Löffel braucht es, wenn nur schlechte Kopien zur Verfügung stehen, die dein Screenreader nicht lesen kann und daher erst aufbereitet werden müssen? Wie viele Löffel braucht es wohl, mit Dozierenden darüber diskutieren zu müssen, dass der Videokonferenzdienst nicht barrierefrei ist oder Alternativtexte zu Bildern, Videos und Grafiken unabdingbar sind? Wie viele Löffel kostet es wohl, den Kommiliton_innen jedes Mal erklären zu müssen, dass die Wirkung der Medikamente es einfach nicht zulässt, sich früh morgens zu treffen und nicht Faulheit oder Unlust der Grund ist?
Dieser kleine Einblick offenbart wie Behinderung und Krankheit trotz UN-Behindertenrechtskonvention und disability studies weiterhin verstanden werden: als individuelles Problem und Abweichung von der Norm.
Kann folglich von einer inklusiven Hochschule die Rede sein, wenn diese Institutionen von Studierenden ausgehen, die weder Hilfsmittel, Therapien noch Assistenz in Anspruch nehmen, nie angesichts gesellschaftlicher reproduzierter Normen Zweifel und Hoffnungslosigkeit spüren und sich an Studienbedingungen und künftige Arbeitsverhältnisse anpassen, die auf Konkurrenz und Leistung basieren?
Um diesen Verhältnissen entgegenzutreten, braucht es Menschen, die sich für Inklusion und Barrierefreiheit einsetzen. Lust mitzumachen?
Schreib an inklusion@stura.uni-leipzig.de
Du willst mehr zu Inklusion und disability studies wissen? Schau mal bei
Rebecca Maskos, Elia Lüthi, Swantje Köbsell, Anne Waldschmidt, David Breme, Simon Ledder, Gertraud Kremsner, Mai-Anh Boger, Anna-Rebecca Nowicki, Sarah Karim, Volker Schönwiese, Kirsten Achtelik,...