05/09/2024
„Mit dem heißen Dampf, den auch Erwachsene manchmal ablassen, können Kinder nur umgehen, wenn er nicht auf ihr Inneres gerichtet ist, denn da drohen Verbrennungen. Das eine ist Schimpfen, das andere ist »Ausschimpfen« – mit dem das Kind wortwörtlich »entleert« wird. Mir ist das wichtig, denn schon, wenn Eltern diesen Unterschied wahrnehmen, können sie sich im Konfliktfall besser orientieren – schon vom »Ausschimpfen« zum Schimpfen zu kommen ist ein wichtiger Schritt.
Kinder belastet auch, wenn sich Eltern beim Schimpfen komplett »verlieren« – also die Kontrolle verlieren und Dinge tun, die Kinder beängstigen. Ich hatte früher eine Geigenlehrerin, die konnte plötzlich komplett ausrasten, wenn wir SchülerInnen den Ton nicht trafen, und schlug dann mit der flachen Hand auf ihre Klaviertastatur (die nicht ohne Grund ein paar fehlende Tasten hatte). Nein, mit solchen Drachen können Kinder nicht umgehen, weil sie von ihnen bis auf die Knochen beängstigt werden!
Und natürlich zählt für ein Kind auch der Hintergrund, insbesondere in der Familie: all das, was außer Schimpfen sonst noch läuft. Ob das Schimpfen zu Hause zum *Grundton« gehört, wie vertraut die Familie miteinander ist, ob die schrägen Töne zu ansonsten harmonischer Musik gehören, oder ob das Orchester schief gestimmt ist.
Becky Kennedy drückt das ihn in ihrem Buch Good inside so aus: »Ich kann manchmal herumschreien und dennoch eine liebevolle Mutter sein.« Ich glaube, wir sollten diesen Aspekt nicht gering schätzen. Wir wissen ja, wie gut es unseren Kindern tut, wenn wir die Handlungsebene von der Persönlichkeitsebene trennen: Meine kleine Lilja ist ein wunderbarer Mensch, auch wenn sie mir im Frust manchmal schlimme Sachen an den Kopf wirft. Eine solche Haltung tut übrigens auch uns selbst gut, denn wie schnell werfen wir uns bei Fehlern vor, was für schlechte Menschen wir sind! Ich jedenfalls plädiere für Nachsicht.
Tatsächlich ist es schwer zu sagen, welche Auswirkungen das Schimpfen in einer Familie unter dem Strich hat: Manche Eltern schimpfen schnell los und lassen dabei ihren Dampf schnell ab. Andere schimpfen oft, sind dafür gut im Versöhnen. Andere schimpfen selten, kommen dann aber nur schwer aus einer Kränkung wieder heraus. Wieder andere tun alles, um sich mit Schimpfen zurückzuhalten, landen aber bei einer beherrschten, kalten Wut, mit der Kinder noch viel weniger anfangen können (zum Beispiel, wenn sie einfach schweigend das Zimmer verlassen - dagegen ist Schimpfen für ein Kind viel leichter zu ertragen!). Oder sie reagieren über, kennen, wenn sie mal explodieren, ihre Grenzen nicht und falten die Kinder zusammen. Also: Was den Weg aus der Schimpf-Falle angeht, muss jede Familie ihre eigene »Schimpfdiät« finden.“
Auszug aus „Mit Herz und Klarheit – Wie Erziehung gelingt und was eine gute Kindheit ausmacht“ von Herbert Renz-Polster