17/08/2020
Hallo zusammen,
mein Name ist Tom Gehre, ich bin Vorsitzender des Vereins Krisenintervention & Notfallseelsorge Dresden e.V. Seit nunmehr 13 Jahren bin ich ehrenamtlich in der akuten Versorgung von Betroffenen, nach plötzlichem Tod eines nahen Angehörigen, tätig.
In den vielen Jahren habe ich Menschen kennengelernt, welche schwere Schicksalsschläge erleben mussten. Menschen, die Bilder gesehen haben, die den meisten von uns nicht vorstellbar erscheinen. Wir KITler (Kriseninterventionsmitarbeiter) machen dieses Ehrenamt mit einem gewissen Idealismus. Wir sehen es als einen Akt der Menschlichkeit an, füreinander da zu sein, auszuhalten und Hilfestellungen zu geben.
Seit Jahren versuchen wir die Strukturen und die Versorgung für Betroffene in akuten Situationen zu verbessern, doch manchmal fühlen wir uns machtlos. Wir sehen, wie Gefühle von Betroffenen nicht geachtet werden, wo Privatsphäre ausgehebelt wird. Mich macht das wütend und in den letzten Jahren erlebe ich eher eine Zunahme der Respektlosigkeit als die Achtung vor dem einzelnen Menschen.
Ich wende mich heute mit einem offenen Brief an Sie, um eine Sensibilisierung für ein Thema zu erreichen, das Ihnen vermutlich kaum bewusst sein wird, da wir in der Regel nicht direkt selbst davon betroffen sind. Mir geht es nicht um Schuldzuweisungen oder Anklagen. Nein, ich möchte vielmehr darauf aufmerksam machen und von meiner Erfahrung berichten und vielleicht einen kleinen Diskurs anregen.
Wir alle lesen diese Meldungen in den Sozialen Medien: Menschen, die bei Verkehrsunfällen auf tragische Weise versterben. Dazu Bilder von zerstörten Autos, Bilder von Einsatzkräften, abgedeckte Verstorbene. Wir alle sind neugierig, klicken auf die Artikel, lesen sie und schauen uns die Bilder an. Es ist gut und wichtig, dass Medien über diese Ereignisse berichten, das öffentliche Interesse muss bedient werden. Für viele Themen wird durch diese Form der Berichterstattung auch eine erhöhte Sensibilisierung erreicht, was gerade im Sinne der Prävention sehr wertvoll ist. Und wir Menschen, die diese Berichte und Bilder konsumieren, folgen einem ureigenen instinktiven und natürlichen Interesse, das normal und auch nicht kritisch zu sehen ist, jedoch Grenzen haben sollte. Grenzen, bei denen die Würde der Verstorbenen gewahrt werden und das Leid der Betroffenen geachtet werden muss.
Mir geht es vor allem um folgende Frage: Wann sollte über tödliche Ereignisse berichtet werden, mit welchen Bildern und wie. Oder anders formuliert: Stellen Sie sich selbst kritisch die Frage, wann und auf welche Weise Sie erfahren möchten, dass ihre geliebte Frau, ihr geliebter Vater oder Sohn, plötzlich verstorben ist?
Wenn ein Mensch beispielsweise bei einem Verkehrsunfall verstirbt, müssen nach abgeschlossener Identifizierung des Verstorbenen (passiert in der Regel direkt vor Ort), auch die nächsten Angehörigen darüber informiert werden. Konkret sieht das so aus, dass die Polizei die Todesnachricht an die Angehörigen überbringen muss, wobei die Möglichkeit besteht, auf uns als Ehrenamtliche zurückzugreifen. So kommt es nicht selten vor, dass wir die Kollegen bei der Überbringung einer Todesnachricht unterstützen.
In der Regel dauert es bis zu einigen Stunden nach dem eigentlichen Unfall, bis die Identifizierung abgeschlossen ist, die nächsten Angehörigen des Verstorbenen ermittelt sind und schließlich der Wohnort oder die Arbeitsstelle der Angehörigen aufgesucht wurde, um diese traurige Nachricht zu übermitteln. Außerdem ist es keineswegs sicher, dass in jedem Fall die Angehörigen immer sofort angetroffen werden.
Zeit, die wichtig ist und ihre Berechtigung hat. Zeit für Organisation und Abstimmung, um notwendige Fragen zu klären: Wie viele Angehörige gibt es? Wie viele unterschiedliche Wohnorte müssen aufgesucht werden? Zeit, die Sicherheit gewährleisten soll, um nicht fälschlicherweise eine falsche Todesnachricht zu überbringen. Denn wie tragisch wäre das!
Oberstes Ziel ist es, die Angehörigen über den tragischen Tod ihres geliebten Menschen zeitnah, in einem geschützten Rahmen zu informieren. Sie auf menschlicher Ebene fachgerecht aufzufangen und zu unterstützen. Ihnen die nächsten Schritte zu erklären, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und zu stärken.
Nun zu meinem eigentlichen Anliegen. Leider erlebe ich in den letzten Jahren, dass wir die wenigen, so wichtigen Stunden, die wir z.B. nach einem tödlichen Unfall Zeit haben, um die Angehörigen zu informieren, gar nicht mehr haben. Die Schnelllebigkeit/Das Tempo/Die Geschwindigkeit der Sozialen Medien arbeitet gegen uns und unsere Zeit.
Immer häufiger passiert es, dass Betroffene über den Tod ihres geliebten Angehörigen aus den Sozialen Medien erfahren! Sie erkennen anhand der Bilder das Fahrzeug, das Motorrad, das Fahrrad. Sie lesen das Alter, das Geschlecht und erahnen in der Kombination aus diesen Informationen, dass es sich um ihr Kind, um ihren Partner, die eigenen Eltern, Freunde handelt.
Stellen Sie sich vor, Sie sind gerade bei schönstem Sommerwetter am See baden, sind gerade einkaufen oder sitzen im Bus oder machen gerade eine Pause auf dem Autobahnrastplatz und nutzen die Zeit, um im Internet zu schauen, was es gerade so Neues gibt und erfahren darüber, dass ihr Familienangehöriger verstorben ist.
Plötzlich durchzieht Sie in Schauer, Sie weinen und wissen gar nicht, was Sie machen sollen. Sie liegen zwischen vielen anderen am See, Sie haben den vollen Einkaufswagen vor sich und haben ihr eigenes Auto in der Tiefgarage stehen, im Bus stehen viele Menschen um Sie herum, Sie stehen ganz alleine auf einem Autobahnparkplatz und wissen gerade nicht, wie Sie weiterfahren sollen. Ihre Welt bleibt stehen, während alles um Sie herum sich weiterdreht und Sie vor Schock nicht wissen, wie Ihnen gerade geschieht.
Dies ist nur eine Nuance aus meinen Erfahrungen der letzten Jahre. Ich möchte auch nicht zu sehr ins Detail gehen, was nach solchen Meldungen passieren könnte oder bereits passiert ist.
Teilweise erleben wir sogar, dass durch die Berichterstattung Angehörige an die Unfallstellen kommen und so in Situationen geraten, welche sie zusätzlich belasten können.
Ich möchte alle Medienverantwortlichen, alle Seiteninhaber von Feuerwehren, Hilfsorganisationen, alle Privatpersonen zum Nachdenken anregen, wie mit solchen Meldungen umgegangen wird. Ein schnelles undifferenziertes Teilen, ein Weiterverschicken solcher Meldungen empfinde ich in diesem Zusammenhang als grob fahrlässig.
Ja, die Öffentlichkeit hat das „Recht“ dazu, diese Dinge zu erfahren, aber muss es bereits ein bis zwei Stunden nach dem Unfall sein? Reicht es nicht auch aus, mit der Veröffentlichung von tödlichen Ereignissen zu warten, bis die Polizei bestätigt hat, dass die Angehörigeninformation erfolgt ist? Wir brauchen ein Umdenken! Nicht unsere Neugier, welche sofort gestillt werden muss, sollte im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die Menschen, die vermutlich am stärksten und längsten darunter leiden werden. Denn hinter jedem Menschen, der verstirbt stehen Menschen, die diesen lieben und für die sich von einer Sekunde auf die andere die Sicht auf die Welt und das Leben verändert.
Ein häufiges Argument, das ich seitens Medienvertretern höre ist, dass viele Menschen sich melden und verunsichert erfragen, was an einem Ort passiert ist, weil viele Einsatzfahrzeuge zu sehen waren. Hier muss man auch feststellen, dass nicht über die Vorfälle berichtet wird, wo es viele öffentliche Anfragen gibt, sondern welche Art von Meldung möglichst viele Klickzahlen erreicht.
Nein, es sind vielmehr die Meldungen über schwere Unglücke und persönliche Schicksale, die uns triggern, die unser Interesse wecken. Wie bereits beschrieben, verurteile ich das nicht und sehe es als vollkommen natürlich an. Wie wir aber mit solchen Meldungen umgehen, liegt in unserer Hand und ich würde mich freuen, wenn diese Zeilen vielleicht doch den einen oder anderen dazu bewegen, sein Handeln zu überdenken.
Es gibt Alternativen! Teilweise erlebe ich eine sehr professionelle Medienarbeit bei Einheiten der Gefahrenabwehr. Hier wird zeitnah über ein Ereignis berichtet, allerdings ohne Details wie z.B. Geschlecht und Alter der verstorbenen Person oder direkte Bilder von verunfallte Fahrzeuge. Für die Erstmeldung lässt sich auch ein Bild von Einsatzfahrzeugen nutzen.
Ich würde mir mehr Sensibilität, mehr Menschlichkeit für dieses Thema wünschen. Wir sollten lernen in bestimmten Situationen unser eigenes Interesse hintenanzustellen und mehr Empathie in unsere Gedanken und Überlegungen aufnehmen. Mein Anspruch war es immer, eine „Art Anwalt der Betroffenen“ zu sein. Viele können nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen nicht die Kraft aufbringen, sich gegen die mediale Berichterstattung zu stellen, ihren Unmut Gehör zu verschaffen. Auch deswegen habe ich diese Zeilen verfasst, weil ich leider immer wieder spüren muss was, die beschriebene Problematik bei Angehörigen und Freunden auslöst.