06/04/2021
Nach einer kleinen Babypause hier mal wieder ein spannender Beitrag zur aktuellen Lage, der zum Nachdenken anregt.
EINSAMKEIT - WIE GEHT ES EUCH DAMIT?
Über die (Un)Fähigkeit, alleine zu sein und sich selbst zu genießen
Ein Baby braucht, vor allem in den ersten neun Monaten seines Lebens, ebenso wie danach, das Gefühl, mindestens eine geliebte Bezugsperson steht zuverlässig zur Verfügung.
Die Betonung liegt auf „zuverlässig“.
Wenn ein Baby bzw. Kleinkind hingegen immer wieder die Erfahrung macht, dass seine Eltern nicht zuverlässig für seine Bedürfnisse zur Verfügung stehen, fühlt es sich verlassen und verspürt tiefe Unsicherheit.
Und da es von der materiellen, körperlichen wie psychischen Zuwendung seiner engsten Bezugspersonen existentiell abhängig ist, beginnt eine Art Überlebenskampf. Es tut alles in seiner Macht stehende, um seine Bedürfnisse zu befriedigen: Es wird genügsam, weint und schreit nicht mehr, weil Mama dann länger freundlich ist. Es lächelt, obwohl es wütend ist, es wird krank, um Zuwendung zu bekommen, kurz: Es lernt, sich selbst, seine Gefühle und Bedürfnisse zu verleugnen, um eine Art Notversorgung zu gewährleisten.
Wenn das funktioniert, lernt es, dass es – wenn auch mangelhaft – versorgt wird, wenn es versucht, sich und andere zu kontrollieren. Und es wird diese Überlebensmaßnahmen ins Erwachsenenalter übernehmen – zu einem enorm hohen Preis. Denn dieser kleine Mensch gibt sein tiefes Urvertrauen, seine Selbstliebe und Lebendigkeit auf, um zu funktionieren.
Er wird zu einer Art Maschine, darauf trainiert zu überleben anstatt zu leben, zu genießen, einfach nur da zu sein und sich am Leben zu freuen.
So ein Mensch verliert häufig auch die Fähigkeit, mit sich alleine glücklich zu sein und gut für sich zu sorgen, da er – in gewisser Weise und oft ein ganzes Leben lang – eine Art abhängiges Kind bleibt, immer darauf ausgerichtet, die Liebe, Anerkennung und Bestätigung anderer zu gewinnen bzw. bloß nicht zu verlieren.
Da er verlernt hat, bei sich zu bleiben, und seinen Gefühlen, natürlichen Bedürfnissen und Impulsen nicht mehr vertraut, sind Angst, Unsicherheit, Einsamkeit und Wut ebenso wie Unruhe, Getriebensein häufige, wenn auch meist unbewusste, Begleiter.
Wenn ein Kind hingegen zuverlässig erfährt, dass es alleine sein kann und darf, wissend und zutiefst darauf vertrauend, dass wohlwollende Menschen in der Nähe sind, die bei Bedarf sofort zur Verfügung stehen, wird es auch als Erwachsener schätzen, immer wieder mit sich alleine zu sein.
Er wird aus diesem Alleinsein gesättigt hervorgehen – satt von sich selbst, der tiefen Freude, Lebendigkeit und Stille, die seine Natur ist.
Diese Erfahrung gibt ihm Ruhe, Zufrieden- und eine tiefe Gelassenheit, die ihm zudem ermöglicht, auf eine gesunde Art unabhängig und klar zu bleiben, wenn Menschen ihn unbewusst zu leidvollen Re-Inszenierungen einladen. Er ist in der Lage Wege zu finden, diese mehr und mehr zu vermeiden. Er braucht es auch kaum noch, sich über Sucht, Konsum oder andere Arten der Ausschweifungen von sich selbst, seinen Schwierigkeiten, inneren Konflikten, traumatischen Themen und Gefühlen abzulenken.
Wenn dies hingegen nicht geschehen ist, bleibt ihm als Erwachsener, wenn ihm an sich selbst liegt, nichts anderes übrig, als verspätet erwachsen zu werden. Das bedeutet u. a., dir bewusst zu sein, wer bzw. du wirklich bist und diese Erkenntnisse immer tiefer zu verkörpern.
In Bezug auf Alleinsein heißt das, du entdeckst dich selbst und zwar auch und vor allem dadurch, dass du dich immer wieder dem physischen Alleinsein stellst – in deinem Rhythmus und gemäß deinem natürlichen Drang nach Selbstständigkeit. Du lernst deinen Körper, seine Kraft, Lebendigkeit und Sprache, deine Gefühle, tiefsten Ängste und Schmerzen, Wünsche, Werte und deine Fähigkeiten sowie die Dinge kennen, die dir Freude bereiten.
Und du entdeckst dein wahres Zuhause, die Stille, den unendlich weiten Raum, der du wirklich bist.
Und in dem Erkennen, was wirklich ist und was nicht, was alte Gefühle und Gedanken sind und was aktuell ist, lernst du zu unterscheiden zwischen Dem, was du wirklich bist, und dem verlassenen, ungeliebten inneren Kind sowie den künstlichen Identitäten und Überlebensstrategien, die du erworben hast, um zu überleben.
Dadurch dass du all das immer besser durchschaust, haben dich deine Abwehrmechanismen und Inneren-Kind-Trancen nicht mehr im Griff und du bist in der seltenen Lage, mit deiner Aufmerksamkeit in der Stille zu verweilen bzw. immer wieder dorthin zurückzukehren, wenn sie sich denn mal wieder – in den Hereinforderungen des Alltags – losgerissen hat.
Denn nur von dort aus kannst du dem verlassenen inneren Kind zuverlässig die Mutter bzw. der Vater und damit der Halt sein, den es braucht.
Erst dann bist du frei – von der Vergangenheit, destruktiven Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern, dem traumatischen Wiederholungszwang, Angst, Scham, Depressionen und der rastlosen Suche nach Anerkennung, Bestätigung, Liebe, Frieden und Freiheit im Außen.
Willkommen zu Hause!
(Quelle: Gabriele Rudolph, Das innere Kind und die Stille, Ottersberg 2021, Foto von Carina Beyerlein 2019)