22/11/2025
Wenn die letzten Tage des Novembers über das Land streichen und die letzten goldenen Blätter wie flackernde Erinnerungen davonwehen, erzählt man sich in den Highlands eine Geschichte. Eine Geschichte über eine alte Göttin, die nicht alt im menschlichen Sinne ist, sondern alt ist wie die Felsen, wie der Sturm, oder wie die erste Eiseskälte, die je auf die Erde fiel.
Man nennt sie Cailleach, die Verschleierte. Hüterin des Winters. Weberin des Sturms. Beschützerin der wilden Tiere und Wächterin der Schwelle zwischen Leben und Tod.
Und nun, da das Licht sich immer weiter zurückzieht, erhebt sie sich wieder und sie geht über das Land, über Berge, durch Täler, vorbei an Bäche und Seen.
Es heißt, in mondlosen Nächten da kann man sie sehen, eine große Gestalt, gehüllt in einen Mantel, der dunkel schimmert wie der Bauch eines Gewitterwolks. Ihr Haar fällt wie Nebel über ihre Schultern, und ihr Stab ist aus einem Holz gewachsen, das älter ist als jede Erinnerung. Und sie geht, immer weiter, ohne Rast und ohne Ruh.
Weiter über Hügelzüge, hinein in verborgene Täler, hinauf auf die Berge, die wie schlafende Riesen ruhen. Unter ihren Schritten friert die Erde zu. Wo sie mit dem Stab die Erde berührt, blühen Eiskristalle wie winterliche Sterne und Blumen. Manche sagen, dass sie den Winter ruft, andere wiederum sagen, sie ist der Winter.
Hoch über ihren Kopf ziehen die weißen Gänse, deren Rufe tief und weit über die Highlands hinaus hallen. Sie begleiten die Cailleach auf ihren Wegen, doch sie sind weder Besitz, noch ihr Gefolge, sie sind freie Boten, Wesen, die die gleiche Schwelle zwischen den Welten kennen wie sie. Und sie folgen ihrem Weg, so wie der Wind dem Wetter folgt.
Doch die Cailleach ist nicht nur die Göttin, die mit den Gänsen geht. Sie ist die Hüterin aller Tiere. Unter ihrem Mantel finden die Wesen des Winterwaldes Schutz. Die Rotfüchse, die im Zwielicht lautlos durch die Kälte auf der Suche nach Futter laufen. Die Hirsche, deren Atem silbern in der Luft steht. Die Krähen, die auf kahlen Ästen sitzen und alte Weisheiten krächzen. Und die Hasen, die im Schnee verschwinden wie kleine Schatten aus Licht.
Alles, was Wildnis trägt, was die Freiheit der Natur im Herzen trägt, steht unter ihrem Schutz. Sie kennt die Spuren der Tiere besser als menschliche Pfade. Sie versteht ihre Sprache. Sie fühlt, wenn sie leiden, und sie wacht über sie mit einer Kraft, die still und groß ist wie der Winterhimmel selbst.
Mit jedem Schlag ihres Stabes ruft sie die Kräfte, die im Sommer geschlafen haben, zu sich, den schneidenden Atem des Nordwinds, den Tanz des Schnees, und die sanfte, ernste Tiefe der Winterstille.
Sie lenkt die Stürme, denn sie ist nicht nur Bringerin des Winters, sie ist auch die Göttin der Übergänge. Die, die uns lehrt, dass jedes Ende ein heiliger Raum ist. Ein Raum des Wandels. Ein Raum, in dem die Wahrheit klarer wird. Viele fürchten sie, denn sie ist die Göttin des Todes. Doch die Alten wussten, der Tod ist kein Feind. Er ist ein Tor. Ein Atemwechsel. Ein Schweigen voller Geheimnisse.
Die Cailleach nimmt nichts, das nicht bereit ist zu gehen. Sie löst, was sich verkrampft hat. Sie beendet, was längst im Schatten lebt. Sie begleitet jene, die nicht mehr im Licht wandern können, würdevoll, ernst, doch niemals grausam.
Und wenn sie den höchsten Gipfel erreicht hat, dort, wo der Wind wie uralte Musik singt, dann hebt sie ihren Stab. Und die Schneeflocken beginnen zu fallen, bis das Land, und auch so manches Herz, bedeckt ist vom zarten sanften weiß.
Und wisse der Winter, er spricht nicht vom Ende. Er ist das Atemholen der Welt. Ein sich Wiederfinden und Stillwerden, das heilt.
Und während ihre Gänse weiter durch die Lüfte fliegen, ruft sie mit jener Stimme, die weder alt noch jung, sondern zeitlos, und unendlich klingt; „Ruht, ihr Kinder des warmen Halbjahres. Werdet still, um euch selbst zu hören. Ich bringe euch die Kälte, damit eure Seelen so klar werden wie das Eis auch den Lochs.“
Und wenn du in diesen Tagen hinausgehst, unabhängig davon ob du in den Highlands wanderst, oder in deinem Garten stehst, in den Wald oder über Felder gehst, oder ob du auch nur an einem offenen Fenster stehst, dann kannst du sie vielleicht spüren.
Sie ist wie ein Hauch von Wind, der wie eine Hand über dein Gesicht streicht. Ein Ruf der Gänse in der Ferne, der sich in deinem Inneren verankert. Eine Stille, die mehr sagt als tausend Worte.
Dann weißt du, Cailleach sie geht wieder über das Land. Und vielleicht betritt sie auch ein Stück deiner Erde, und sie geht über deinen eigenen inneren Boden.
Sie begleitet uns, wenn das Jahr stirbt. Stärkt uns, wenn wir Dunkelheit brauchen, um uns zu erinnern, und hilft uns loszulassen, was schon lange gehen wollte.
Denn sie ist die Wanderin aus dem Nordwind. Die Hüterin der Tiere. Bringerin des Winters und uralte Bewahrerin der Schwelle. Und in diesen letzten stillen Nächten des Novembers können wir ihre Schritte schon näher hören, und fühlen, wie sie uns nun durch die kommende kalte Zeit begleitet.
Maria Solva Roithinger