28/07/2025
Smarte Genesung aus der Sz
Warum Gesundheits-Apps nicht funktionieren
Eine App, um abzunehmen oder der Psyche zu helfen, bezahlt von der gesetzlichen Krankenkasse. Digitale Gesundheitsanwendungen klingen gut, können die Erwartungen aber meist nicht erfüllen.
Von Elisabeth Dostert
Übergewicht und Adipositas sind der Grund für viele Beschwerden. Digitale Gesundheitsanwendungen sollen helfen, abzunehmen.
München Heide hat abgenommen, 22 Kilo. Sie ist eine der Erfolgsgeschichten, die die Firma Oviva auf ihrer Internetseite erzählt. Es sind auch zwei Fotos von Heide zu sehen. Vorher, nachher, so wie es die Akteure im Abnehmmarkt gerne machen. Eine Frau, vielleicht mittleren Alters, blonde Haare, Ganzkörperprofil, so kommt am besten rüber, wie viel Gewicht sie verloren hat. In welchem Zeitraum ist nicht vermerkt. Das Programm habe bisher all ihre Erwartungen und Träume übertroffen, wird Heide zitiert. Die Verbesserungen ihrer Gesundheit sei die Mühe absolut wert gewesen. „Es macht mir Spaß, die Oviva-App zu nutzen!“ Abnehmen ohne Kalorienzählen, versprechen die Macher der App und zeigen in ihren Werbefilmen vorzugsweise Menschen beim Essen. Sie lachen, essen, genießen.
Die Menschen in den Videos, es sind meist Frauen, machen Fotos von der Mahlzeit auf ihrem Teller und laden sie in die App hoch. Eine künstliche Intelligenz wertet das Foto aus und gibt Empfehlungen. Heute noch ein bisschen Eiweiß, weniger Kohlenhydrate und mehr Wasser trinken. Es gibt Rezepte. Wie sich das Gewicht entwickelt, können die Nutzerinnen in einer Grafik verfolgen. Oviva wurde 2014 in der Schweiz von Kai Eberhardt und Manuel Baumann gegründet. Seit 2016 gibt es eine Niederlassung in Potsdam.
Oviva ist eine digitale Gesundheitsanwendung, kurz Diga. Es gibt sie als Apps in den Stores von Apple und Google oder als Webanwendungen. Seit Ende 2019, mit Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes, gehören sie zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen, das heißt: Sie erstatten die Kosten. Eine Diga wird vom Arzt oder der Psychotherapeutin verordnet. Sie können auch direkt bei der Krankenkasse beantragt werden, wenn der Nachweis für eine Indikation, also ein Krankheitsbild wie etwa Adipositas, vorliegt. Das Rezept für eine Diga ist in der Regel drei Monate gültig. Eine Diga kann, wie ein Medikament, mehrmals in Folge verordnet werden.
Die Erstattung durch die Krankenkasse setzt voraus, dass die Diga ein Prüfverfahren beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) durchlaufen hat. Die Anbieter müssen unter anderem wissenschaftliche Nachweise zum Versorgungseffekt beibringen, zum Beispiel, dass sich der Gesundheitszustand verbessert hat. Die Behörde führt auch das Diga-Verzeichnis. Stand 21. Juli waren rund 71 Diga gelistet. Die meisten entfallen auf die Kategorie Psyche wie Deprexis oder Hello Better Panik. Gut ein Dutzend ist noch nicht dauerhaft in das Verzeichnis aufgenommen, weil der Nachweis für einen positiven Versorgungseffekt fehlt. Sie sind noch in der Erprobung, und die kann bis zu zwei Jahren dauern.
Keine andere App wurde vergangenes Jahr so oft verordnet wie Oviva, fast 125 000 Freischaltcodes gab es für Patienten, heißt es im Diga-Bericht des GKV-Spitzenverbandes, der Dachorganisation der gesetzlichen Krankenkassen. Nach Angaben des Digitalverbandes Bitkom wurden 2021 mit den digitalen Therapeutika 57 Millionen Euro umgesetzt, 2023 waren es fast 125 Millionen Euro. Kleinigkeiten in einem Gesundheitssystem, das jährlich Milliarden Euro kostet.
Deutschland sei 2020 das erste Land gewesen, das einen „strukturierten Erstattungsweg“ für Diga in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt habe. „Da waren wir mal richtig früh dran“, sagt Simon Reif, Gesundheitsökonom am ZEW Mannheim und Co-Autor einer Studie zu Diga. Strukturiert heißt, es gibt ein Verfahren, das den Zugang zu allen Krankenkassen ermöglicht. Die Studie basiert auf Daten, die von Januar 2018 bis September 2021 erfasst wurden. Die Autoren haben sich angesehen, wie sich die Zahl der deutschsprachigen Gesundheits-Apps im Apple-Store entwickelt hat. Die Daten seien um die vielen Apps, die während der Pandemie auf den Markt kamen, bereinigt worden.
Nach Inkrafttreten des Gesetzes sei die Zahl der Medizin-, Gesundheits- und Fitness-Apps deutlich gestiegen. Und doch klingt auch Reif enttäuscht. Der Anstieg sei fast ausschließlich von Apps getrieben worden, die Patientendaten für Werbung nutzen. „Das ist bei Diga verboten. Der Schutz persönlicher Daten hat höchste Priorität“, erläutert Reif. Die Zahl der digitalen Therapeutika wie Diga, zu denen es wissenschaftliche Publikationen gebe, legte dagegen kaum zu. Solche Publikationen seien nicht nur ein Qualitätsmerkmal. Die Tatsache, dass es so wenige neue Apps mit Publikationen gebe, zeige auch, dass viele Hersteller gar nicht in das Diga-Verfahren wollen, denn dafür seien wissenschaftliche Evaluationen eine Voraussetzung, meint Gesundheitsökonom Reif.
Der anfängliche Enthusiasmus über erstattungsfähige Diga habe nicht dazu geführt, dass tatsächlich viele Apps für diesen Markt entwickelt wurden. „Das Ziel der Erstattungsfähigkeit, viele digitale Gesundheitsangebote für gesetzlich Versicherte zur Verfügung zu stellen, ist bislang nicht erreicht worden“, sagt Reif. Dass bislang nur rund 70 Diga eine Registrierung beim Bfarm erreicht haben, sei aber kein Beleg dafür, dass sie schlecht seien oder keinen Versorgungseffekt hätten. Die regulatorischen Hürden für Anbieter seien hoch, bemängelt Reif: „Für die Entwickler scheint es schlichtweg nicht sonderlich attraktiv, ihre App in die Erstattungsfähigkeit zu bringen, weil sie in Anbetracht der Kosten des Verfahrens schlecht vergütet werden.“
Im ersten Jahr der Aufnahme können die Hersteller den Preis für die Diga selbst festsetzen, danach wird er zwischen Entwickler und Krankenkassen verhandelt. So war es auch bei Oviva. Im Herbst 2021 wurde die Diga vorläufig in das Bfarm-Verzeichnis aufgenommen, die Probephase wurde um ein Jahr verlängert. 2023 erfolgte dann die dauerhafte Aufnahme. Der Einstiegspreis lag bei 345 Euro je Rezept für drei Monate. Mit der dauerhaften Aufnahme sank er auf knapp 190 Euro, mittlerweile erstatten die Kassen 220,90 Euro je Rezept.
Kein positiver Versorgungseffekt
Im Bericht 2024 schreibt der GKV-Spitzenverband den Diga zwar ein „großes Potenzial für eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung“ zu, die Bilanz nach nun vier Jahren in der Versorgung falle „leider nur ernüchternd“ aus. Betrachtet wurde ein Zeitraum von September 2020, als zum ersten Mal die Diga flächendeckend als GKV-Leitung zur Verfügung standen, bis Dezember 2024. Der Nutzen der weit überwiegenden Mehrzahl könne weiterhin zunächst nicht belegt werden. Immer wieder überstehen Diga die Probephase nicht und werden vom Bfarm ausgelistet. Erst vor ein paar Tagen flog Mebix aus dem Verzeichnis, weil kein positiver Versorgungseffekt nachgewiesen werden konnte. Die Nutzung der App sollte Diabetes-Patienten helfen, ihren Blutzucker zu senken.
Preise und Nutzen der Diga stehen laut GKV-Bericht in „keinem angemessenen Verhältnis“. Seit der Einführung habe der höchste Herstellerpreis rund 2077 Euro betragen, der durchschnittliche 541 Euro. Teuerste App war Levidex für Patienten, die unter Multipler Sklerose leiden. In der Erprobungsphase kostete die einmalige Lizenz 2077,40 Euro, sie endete Anfang 2025. Der GKV-Spitzenverband teilt mit, dass er sich gerade in Vergütungsverhandlungen für Levidex befinde. Es ist eine von nach eigenen Angaben sieben Diga der Hamburger Gaia-Group. Dazu gehören auch Velibra bei Angststörungen oder Somnovia bei Schlafstörungen. Für alle vom Bfarm gelisteten Anwendungen liegen die Vergütungsbeträge häufig deutlich unter den Herstellerpreisen.
Für den GKV stellen die Diga wegen der Preismechanismen auch ein Finanzrisiko dar. Die Erprobungszeit betrage oftmals zwei Jahre, so lange wird der Herstellerpreis vergütet. Die ausgehandelten Preise gelten aber rückwirkend vom 13. Monat der Aufnahme in der Verzeichnis an. Die Differenz müssen die Hersteller zurückerstatten. Im Falle einer Insolvenz riskiere die GKV, dass die Differenz nicht zurückgezahlt werde. Laut Bericht beliefen sich, Stand Ende 2024, die offenen Forderungen auf annähernd 20 Millionen Euro.
Es gab auch Insolvenzen: Im Mai 2023 meldete Aidhere, Anbieter der Adipositas-App Zanadio in Hamburg, Insolvenz an. Als Grund nannte die Firma, die von der Schiedsstelle festgesetzte Vergütung, mit der der Preis sich mehr als halbierte. Die Rückforderungen seien für Aidhere nicht tragbar gewesen. Die Rettung für Aidhere kam aus Island. Im Herbst 2023 übernahm Sidekick Health das Start-up.
„In ihrer jetzigen Form sind die Diga gescheitert“, sagt Gesundheitsökonom Reif: „Wir haben weder ein breites Angebot für die Versicherten, noch sind Kosteneinsparungen in Sicht.“ Reif hat auch eine Anregung, was sich ändern muss: Der Aufwand und die Anforderungen an die Entwickler sollten gesenkt werden, dann können auch die Preise niedriger ausfallen.