16/03/2025
ADHS und der Darm
Kinder, die mit Konzentrationsproblemen, starkem Bewegungsdrang oder einem hohen Aufmerksamkeitsbedarf kämpfen, stehen oft im Fokus der ADHS-Diagnostik. Die herkömmliche Behandlung mit Medikamenten birgt jedoch Risiken: Nebenwirkungen können den Alltag zusätzlich belasten und Eltern vor schwierige Entscheidungen stellen.
Aktuelle Forschungsergebnisse liefern nun spannende Erkenntnisse: Immer mehr Studien weisen auf eine mögliche Verbindung zwischen der Darmflora und neurologischen Störungen wie ADHS hin.
Was genau steckt hinter AD(H)S?
Die Aufmerksamkeitsstörung (ADS) oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zählt zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. In Deutschland sind etwa 2 bis 6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen betroffen. Typische Symptome sind Hyperaktivität, Konzentrationsprobleme und Impulsivität.
Von Schwierigkeiten im Kindergarten und in der Schule über Herausforderungen in zwischenmenschlichen Beziehungen bis hin zu Problemen mit Organisation und Zeitmanagement im Alltag sowie im Arbeitsleben – Menschen mit ADHS können eine große Bandbreite an Hindernissen erleben. Aber auch kleinere Verhaltensauffälligkeiten wie übermäßige Energie, leichte Unaufmerksamkeit oder gelegentliche Impulsivität können Eltern vor Fragen und Herausforderungen stellen.
ADHS gilt als komplexe Störung, die durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird, darunter genetische, neurobiologische und Umweltfaktoren. Trotz langjähriger Forschung ist die genaue Abfolge der pathologischen Ereignisse, die ADHS zugrunde liegen, noch nicht vollständig geklärt.
Entsprechend konzentriert sich die herkömmliche Behandlung von ADHS meist auf Medikamente, die die Konzentration von Neurotransmittern wie Dopamin und Noradrenalin im Gehirn erhöhen. Dadurch sollen Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motivation reguliert werden. Das Problem: Sie bringen ganz eigene Herausforderungen in Gestalt verschiedener Nebenwirkungen mit sich, darunter Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Schlafstörungen oder Kopfschmerzen. Und das sind nur einige der möglichen Begleiterscheinungen, die die Betroffenen zusätzlich im Alltag belasten können.
Wie kommt nun der Darm ins Spiel?
In jüngster Zeit haben Forscher die Suche nach den Ursprüngen von ADHS noch einmal intensiviert. Dabei sind sie auf einen überraschenden und bisher vernachlässigten Zusammenhang gestoßen: die Beziehung zwischen ADHS und dem Darm! Denn über die sogenannte Darm-Hirn-Achse stehen Gehirn und Darm stets in engem Austausch und kommunizieren über neurologische (also nervliche) und hormonelle Kanäle, aber auch über Immunreaktionen miteinander.
Diese Verbindung ist bidirektional: Einerseits steuert das Gehirn die Darmfunktionen, andererseits zeigen neuere Studien, dass der Darm Einfluss auf die Stimmung, kognitive Funktionen sowie die psychische Gesundheit nehmen kann. Ein wichtiger Faktor scheint dabei das Darmmikrobiom zu sein.
Liegt eine Dysbiose vor, kann sich das auf so unterschiedliche Bereiche wie Müdigkeit und Erschöpfung, Übergewicht, Allergien und einiges mehr negativ auswirken – und eventuell auch auf die Ausprägung von ADHS?
ADHS und Mikrobiom – das sagt die Wissenschaft
Um dieser Frage genauer auf den Grund zu gehen, führte ein deutsches Forschungsteam eine Studie durch, in der anhand von Stuhlproben das Darmmikrobiom von Kindern mit ADHS untersucht wurde. Um ein möglichst klares Ergebnis zu erhalten, stellte es sicher, dass alle Kinder vergleichbare Voraussetzungen hinsichtlich Alter, Gewicht, Herkunft oder Wohnort, aber auch in Bezug auf ihre Ernährungsgewohnheiten sowie Medikamenteneinnahme gegen die ADHS-Symptome erfüllten.
Das Ergebnis: Die Forscher konnten zeigen, dass Kinder mit ADHS im Vergleich zu Kindern ohne ADHS eine signifikant geringere Vielfalt und ein Ungleichgewicht im Darmmikrobiom aufweisen.
Kann es also wirklich sein, dass Bakterien „schuld“ an Verhaltensabweichungen sind? Dafür geben Wissenschaftler eine plausible Erklärung: Das Darmmikrobiom produziert verschiedene Neurotransmitter, die einen direkten Einfluss auf die Gehirnfunktion haben. Neurotransmitter sind chemische Botenstoffe im Körper, die Signale von Nervenzellen zu Zielzellen übertragen. Sie spielen damit eine entscheidende Rolle im Nervensystem und regulieren zahlreiche Körperfunktionen wie Verdauung, Stimmung, Konzentration, Appetit oder Muskelbewegung.
Zu diesen gehört auch Serotonin, auch bekannt als „Glückshormon“. Es spielt bei sozial-emotionalem Verhalten eine große Rolle – unter anderem ist es für die Regulation der Stimmung, Informationsverarbeitung und unser Wohlbefinden verantwortlich. Wenn wir zu wenig Serotonin produzieren, können entsprechend Probleme in der Emotionsregulierung und im allgemeinen Wohlbefinden die Folge sein.
Da das Darmmikrobiom maßgeblich an der Produktion von Neurotransmittern wie Serotonin beteiligt ist, kann eine Dysbalance des Darmmikrobioms also auch die Gehirnfunktion und das Verhalten beeinflussen – und damit eine Rolle bei Verhaltensstörungen wie ADHS spielen.
Diesen Ansatz untersuchten auch Forscher rund um den renommierten Professor Tomokazu Hata an der Kyushu Universität in Japan. Sie verglichen Mäuse mit intaktem Darmmikrobiom mit sogenannten „germ-free“ (GF) Mäusen, also Mäusen, die über kein eigenes Mikrobiom verfügen.
Das Ergebnis: Bei den bakterienfreien Mäusen war der Neurotransmitter Serotonin stark reduziert. In weiterer Folge des Experiments führten die Wissenschaftler den darmbakterienfreien Mäusen Darmbakterien zu, woraufhin ihre Serotonin-Werte nach nur drei Tagen anstiegen. So konnten sie zeigen, dass Veränderungen des Darmmikrobioms auf den Serotoninhaushalt wirken und damit am Ausbruch und der Ausprägung von Verhaltensabweichungen, die mit ADHS in Verbindung gebracht werden, mitbeteiligt sein können.
Besonders spannend ist auch die Mäusestudie von A. Tengeler in den Niederlanden: Die Forscherin transplantierte Mäusen das Darmmikrobiom von Menschen mit ADHS und verglich im Anschluss daran die Auswirkungen auf den Darm der Mäuse, ihr Gehirn und ihr Verhalten mit der Gruppe der Kontrollmäuse.
Das Ergebnis war verblüffend: Die Mäuse mit ADHS-Mikrobiom zeigten weniger intakte Hirnregionen der weißen und grauen Substanz, insbesondere im Bereich der Capsula interna („innere Kapsel“) und des Hippocampus. Diese Hirnregionen sind maßgeblich bei der Signalübertragung im Gehirn beteiligt, etwa für die Koordination von Bewegung und Sinneseindrücken sowie bei kognitiven Prozessen wie Lernen und Gedächtnis, Stimmung oder Anpassungsfähigkeit. Wenn diese Signalübertragungen gestört sind, können Probleme bei der Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnregionen die Folge sein.
Vereinfacht gesagt zeigten die Mäuse mit dem Darmmikrobiom von ADHS-Betroffenen auch Auffälligkeiten in der Signalübertragung im Gehirn, welche typisch für ADHS sind.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Auch wenn aktuell noch verschiedene Wirkmechanismen untersucht werden, scheint doch festzustehen, dass das Darmmikrobiom eine wichtige Rolle bei neuropsychiatrischen Verhaltensstörungen, wie etwa ADHS, spielt. Zahlreiche Studien unterstreichen diesen Zusammenhang.
Weiterführende wissenschaftliche Literatur:
Prehn-Kristensen A, Zimmermann A, Tittmann L, Lieb W, Schreiber S, Baving L, et al. (2018) Reduced microbiome alpha diversity in young patients with ADHD. PLoS ONE 13(7): e0200728. https://doi.org/10.1371/journal. pone.0200728
Tengeler, A.C., Dam, S.A., Wiesmann, M. et al. Gut microbiota from persons with attention-deficit/hyperactivity disorder affects the brain in mice. Microbiome 8, 44 (2020). https://doi.org/10.1186/s40168-020-00816-x
Banerjee E, Nandagopal K. Does serotonin deficit mediate susceptibility to ADHD? Neurochem Int. 2015 Mar;82:52-68. doi: 10.1016/j.neuint.2015.02.001. Epub 2015 Feb 12. PMID: 25684070.
Checa-Ros, A.; Jeréz-Calero, A.; Molina-Carballo, A.; Campoy, C.; Muñoz-Hoyos, A. Current Evidence on the Role of the Gut Microbiome in ADHD Pathophysiology and Therapeutic Implications. Nutrients 2021, 13, 249. https://doi.org/10.3390/nu13010249