13/05/2025
JA UND NEIN
Es waren einmal ein Ja und ein Nein. Beide gehörten zusammen und brauchten einander. So wie schwarz und weiß, Licht und Schatten oder Tag und Nacht.
Jedoch entwickelte sich das Ja zum Stärkeren von den Beiden. Wann immer es eine Aufgabe zu erledigen gab, es darum ging fleißig zu sein oder jemanden glücklich zu machen war das Ja zur Stelle. So hörte man das Ja sagen: „Ja klar, Ja mache ich, Ja sicher.“ Manchmal sagte es auch: „Natürlich, wenn du willst oder wird gemacht.“
Das Nein versuchte sich ein paar Mal zu Wort zu melden. Aber was es auch tat: es war viel zu leise und viel zu langsam. Das Ja war immer schneller. Und es war auch immer lauter. Nach und nach akzeptierte das Nein, das ihm keiner zuhörte. Während das Ja immer stärker wurde und wuchs, schien das Nein immer mehr zu schrumpfen. Es verzog sich in eine Ecke und schaute schweigend zu, wie das Ja immer mehr Raum einnahm. Es war neidisch und manchmal sogar zornig, dass das Ja sich so breit machte.
Mit der Zeit beobachtete das Nein jedoch eine Veränderung bei seinem Gegenüber. Die Schritte des Ja´s wurden schwerfälliger. Der Enthusiasmus und die Fröhlichkeit schienen Stück für Stück aus dem Ja zu entweichen. So passierte es immer öfter, dass es sich heimlich ein paar Tränen wegwischte. Dabei wirkte es sehr müde. Aber kaum zog ein neuer Tag herauf, straffte das Ja die Schultern und machte weiter. Das Nein beobachtete, wie es dem Ja von Tag zu Tag schwerer fiel sich aufzurichten. Manchmal schien es richtig zu zittern und dennoch kam niemals etwas anderes über seine Lippen als: „Ja!“
Aus dem Neid, den das Nein anfänglich verspürte, wurde Mitleid. Das Nein erinnerte sich wieder daran, wie das ursprünglich einmal gedacht war. Das doch alles zusammengehörte. Das es das Eine nicht ohne das Andere gab. Als das Ja am nächsten Tag völlig kraftlos zu seinem „Ja“ ansetzen wollte, stand das Nein auf und ging mit entschlossenen Schritten auf das Ja zu.
Es stellte sich schützend vor das Ja und sagte mit fester Stimme: „Nein! Es ist genug! Jetzt reicht es!“ Fassungslos starrte das Ja das Nein an und stammelte: „Ich wusste gar nicht, dass du eine Stimme hast!“
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