29/05/2025
Man erzählt sich in Keitum, dass im Sommer des Jahres 1896 ein zurückhaltender Herr mit seiner Frau auf die Insel Sylt kam. Sie reisten über Hoyer und Munkmarsch, wie es damals üblich war, und mieteten sich in einem kleinen Haus mit Blick auf das Watt ein. Er trug einen gepflegten Bart, sprach mit leicht niederländischem Akzent und führte einen ledernen Koffer mit sich, der auffällig schwer war. In ihm: eine große Kamera mit Holzgehäuse, Lederbalg und Messingbeschlägen.
Manche sagen, er sei Professor gewesen. Andere erinnern sich an das Stativ, das er auf Sylt selbst gebaut haben soll, mit einem Gelenk aus Schiffsseil und Zinnmuttern. Fast jeden Morgen sei er in aller Frühe losgezogen, habe in der Heide stundenlang auf das richtige Licht gewartet und dabei kaum einen Laut von sich gegeben. Nur das Klicken des Verschlusses war zu hören – wenn überhaupt.
Die Fischerfrau, bei der sie wohnten, erinnerte sich später, dass das Paar freundlich und bescheiden gewesen sei. Die Frau soll regelmäßig Ansichtskarten gekauft haben – neuartig bedruckte Fotografien aus Westerland, die es erst seit Kurzem bei einem Buchhändler gab. Eine dieser Karten, so wird behauptet, zeigte das Watt bei Ebbe.
Abends soll der Mann gelegentlich im hinteren Waschraum des Hauses hantiert haben – mit roten Tüchern vor der Tür und einem seltsamen Geruch nach Essig und Metall. Ein Junge aus dem Dorf, der einmal durch einen Spalt lugte, berichtete später von „Geistern auf Glas“ und einem Mann, der sagte: „Das Licht zeigt die Dinge, wie sie wirklich sind.“
Bis heute weiß niemand, wer er war. Manche vermuten, er habe kurz zuvor eine Entdeckung gemacht, die das Unsichtbare sichtbar macht. Andere halten es für Seemannsgarn. Aber wer in Keitum an einem stillen Sommermorgen zwischen Watt und Dünen steht, versteht, warum manche Geschichten bleiben – auch wenn niemand mehr weiß, ob sie wahr sind.
Wer war dieser Mann, der kam, um das Licht zu suchen – und vielleicht das Unsichtbare schon gesehen hatte?