16/11/2025
Guten Morgen,
lassen Sie uns, mit unserer Geschichte zum Nachdenken, in den Sonntag starten:
Ich dachte, Fürsorge sei Liebe bis ich vor dem Zimmer meines Sohnes stand, zwischen Chaos und Stille, und begriff, dass ich ihm Ordnung abgenommen und Selbstvertrauen gestohlen hatte.
Er ist siebzehn. Klug, höflich, ein bisschen nachdenklich. Und doch war sein Zimmer an diesem Sonntag ein Sturmgebiet: Kleidung auf dem Boden, Teller auf dem Schreibtisch, das Bett ein zerdrücktes Nest. Ich hatte ihn das Wochenende allein gelassen, kein Zettel, keine Ansagen – nur Vertrauen.
Als ich zurückkam, stand er inmitten dieses Chaos und sagte: „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“
Es war kein Trotz in seiner Stimme. Nur Ratlosigkeit.
Und da traf es mich: Ich hatte ihm nie beigebracht, wie man anfängt. Ich hatte immer angefangen für ihn.
Mein erster Reflex war, wie immer, zu helfen. Aufzuräumen, zu sortieren, zu retten. Doch diesmal blieb ich in der Tür stehen. „Fang beim Bett an“, sagte ich. „Es ist dein Anfang.“
Er sah mich kurz an, dann griff er zur Decke. Seine Bewegungen waren unbeholfen, aber echt. Und plötzlich verstand ich: Er konnte es, er hatte es nur nie müssen.
Ich sah nicht einen faulen Jungen, sondern jemanden, dem man zu viel abgenommen hatte.
Während er die Kissen glattstrich, erinnerte ich mich an meine Jugend. Wir machten unsere Betten, bevor wir zur Schule gingen – nicht aus Zwang, sondern weil es normal war, etwas für sich selbst zu tun. Wir lernten früh, dass Ordnung nichts mit Perfektion zu tun hat, sondern mit Respekt vor dem eigenen Leben.
Liebe, die alles abnimmt, nimmt das Wichtigste weg: Verantwortung.
Er ging in die Küche, wusch einen Teller, kam zurück.
„Und jetzt?“ fragte er.
„Jetzt den Rucksack. Alte Zettel raus, neue rein.“
Er lachte leise. „Das klingt wie du.“
„Nein,“ sagte ich, „das klingt wie jemand, der langsam lernt, sich selbst zu führen.“
Ich sah ihm zu, wie er sortierte, faltete, stapelte. Es war keine große Sache und doch war es alles.
Zum ersten Mal seit Jahren tat er etwas nicht, weil ich es wollte, sondern weil er selbst merkte, dass es sich besser anfühlte, wenn Ordnung da ist.
Am Abend war das Zimmer kein Katalogbild, aber es atmete wieder.
Das Bett lag glatt, das Licht war warm, und in seinem Gesicht lag eine neue Ruhe.
„War gar nicht so schlimm,“ sagte er.
„Die meisten Dinge sind es nicht,“ antwortete ich. „Nur, wenn man sie nie probiert hat.“
Später saß ich allein im Wohnzimmer und dachte an all die Eltern, die ich kenne – müde, liebevoll, überfordert. Die nach langen Tagen noch schnell die Brotdose packen, die Sporttasche suchen, das Bett machen. Aus Liebe. Und doch manchmal aus Angst, dass ohne sie nichts funktioniert.
Vielleicht ist das der Punkt, an dem Liebe wachsen muss von „Ich mache das für dich“ zu „Ich traue dir das zu“.
Denn Fürsorge heißt nicht, Lasten zu tragen, sondern die Kraft zu schenken, sie selbst zu tragen.
Am nächsten Morgen hörte ich sein Bettlaken rascheln, bevor der Wecker zum zweiten Mal klingelte.
Es war das leiseste, schönste Geräusch des Tages.
Ein ungemachtes Bett von heute ist schnell ein ungemachtes Leben von morgen.
Bring deinem Kind bei, jeden Morgen die Decke zu glätten – nicht, weil du Ordnung liebst, sondern weil du willst, dass es eines Tages die Kraft hat, sein Leben wieder glattzuziehen, wenn es zerknittert.
Wir wünschen Ihnen den Mut sich Dinge zuzutrauen, die Sie bisher vor sich hergeschoben haben.
Ihr Rübezahl-Team
Text und Foto: Claudia's Geschichtenstube